Neheim. Hans-Georg Eich und Alicia Sommer vom Heimatbund Neheim-Hüsten erforschen das Leben von Walerya Sitzer, einer jungen jüdischen Frau.
Das Bild der jungen Walerya Sitzer von 1939 haucht ihrer eigenen Geschichte neues Leben ein. Denn das Schicksal der Frau, die in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland als jüdische Zwangsarbeiterin in Neheim gelebt haben soll, wurde im Alter von nur 24 Jahren jäh mit dem Tod beendet. Auf dem Möhnefriedhof erinnert heute noch ein Grabstein mit ihrem Namen an sie. Ihre Geschichte blieb bislang jedoch größtenteils unerzählt.
In der 73. Heftausgabe des Heimatbundes Neheim-Hüsten aus 2021 wagen die Historikerin Alicia Sommer und der Ahnenforscher Hans-Georg Eich einen ersten Versuch, das Leben der jungen Frau in Neheim zu rekonstruieren. Seit fast anderthalb Jahren recherchieren sie nun zum Schicksal von Walerya Sitzer.
Ihnen geht es darum, die Erinnerungen an die junge Zwangsarbeiterin sowie anderen Menschen jüdischen Glaubens, die in der NS-Zeit in Arnsberg gelebt haben, aufrechtzuerhalten. „Ein Mensch wird nicht vergessen, solange der Name nicht vergessen wird“, sagt Alicia Sommer.
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Ein Gespräch über die deutsche Erinnerungskultur, das Aushalten von Widersprüchen und Bruchstücken aus dem Leben von Walerya Sitzer.
Ihre Jugend verbrachte Walerya Sitzer auf einem Hof in Polen
Die Forschungen der beiden Heimatbund-Mitglieder Alicia Sommer und Hans-Georg Eich zum Schicksal der jung verstorbenen Walerya Sitzer kann man sich als Puzzle mit vielen Einzelstücken vorstellen. Ein bedeutendes Puzzleteil entdeckten sie bei einer Internetrecherche auf der Seite der Crestwood School in Kanada. Dort leben heute Nachfahren der Familie von Walerya Sitzer: Es ist ein Zeitzeugen-Interview mit Max Sitzer, dem Bruder der Verstorbenen Walerya Sitzer, aus dem Jahr 2013.
In dem Interview, das seine Nichte Mara Bowman (Original: „young cousin“) aufgezeichnet hat, berichtet er unter anderem über das Leben der Familie Sitzer in Polen. Bis 1942 soll Walerya Sitzer dort mit ihren Eltern Leah und David sowie den drei Geschwistern Max, Edzia und Henya auf einem Hof in dem Ort Stremilche gelebt haben.
Nach der Invasion der Deutschen im Jahr 1941 soll die Familie für das Grenzschutzkommando gearbeitet haben. Vater David versuchte Max Sitzer zufolge Ausreisetickets für die Flucht nach Kanada zu besorgen, scheiterte aber. Im Oktober 1942 soll der Familie Sitzer dann Grausames widerfahren sein: Nazis sollen Mutter Leah und die jüngste Schwester Henya in das Konzentrationslager Belzec verschleppt und ermordet haben.
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Vater David soll daraufhin seine Töchter Edzia und Walerya mit einem Priester als Christinnen getarnt auf die Flucht Richtung Westen geschickt haben. Nach einem Brief von Walerya Sitzer an ihren Bruder und Vater nach ihrer Ankunft in Deutschland verliert sich die Spur jedoch.
Für die beiden Neheimer Forscher Alicia Sommer und Hans-Georg Eich wird es jetzt jedoch spannend. Mit einer Nachricht per Fax (!) nehmen sie Kontakt zur kanadischen Crestwood School auf und können schließlich mit Mara Bowman sprechen, die das Interview mit Max Sitzer geführt hat. Er selbst ist 2017 verstorben. Über seine Söhne wollen sie nun mehr über ihn erfahren. Sein Nachlass soll im „United States Holocaust Memorial Museum“ in den USA liegen.
Sommer und Eich vermuten, dass dort auch der Brief von Walerya Sitzer dokumentiert sein könnte. Sie erhoffen sich mehr Erkenntnisse über ihre Ankunft in Deutschland nach 1942.
Nach 1942 lebt Walerya Sitzer unter anderem Namen in Neheim
Hier soll Walerya Sitzer als polnische Staatsangehörige mit dem Namen Michalina Tymtschyschyn in einem (Zwangsarbeiter)-Lager in der Friedrichstraße in Neheim untergebracht worden sein. Das geht aus einem Sterbeeintrag in den standesamtlichen Registern im Stadt- und Landständearchiv der Stadt Arnsberg hervor.
Unklar bleibt bis heute jedoch die Todesursache von Walerya Sitzer. Laut Sterbeurkunde soll sie in den Morgenstunden am 22. November 1944 gegen 6 Uhr durch einen Suizid „durch Überfahren der Kleinbahn (Kopf vom Rumpf getrennt)“ verstorben sein. Im Verstorbenen-Register der Pfarrei St. Johannes Baptist wird ein Suizid aber nicht vermerkt. Für die beiden Neheimer Forscher ist bislang nicht abschließend geklärt, „ob es sich aufgrund des Todeszeitpunktes im Jahr 1944 und der damaligen Situation tatsächlich um einen Selbstmord gehandelt hat“.
Beerdigt wurde Walerya Sitzer am 25. November 1944 auf dem Friedhof an der Möhnestraße in Neheim in einem Einzelgrab mit der Nummer 945.
Die Erinnerung an Walerya Sitzer bleibt nach dem Tod erhalten
Ausgestellt wurde der Sterbeeintrag aber zunächst auf den Namen Michalina Tymtschyschyn und erst auf Anordnung des Amtsgerichtes Arnsberg im Mai 1974 berichtigt. Wer die Namensänderung veranlasst hat, ist nicht bekannt. Unklar ist auch, wer den Grabstein aufgestellt hat. Bereits 1953 soll er nach Angaben von Inge Fischer auf dem Möhnefriedhof gestanden haben. Im Mai 1974 wurde Walerya Sitzer auf Wunsch ihres Vaters exhumiert und ihr Leichnam nach Jerusalem überführt.
Alicia Sommer und Hans-Georg Eich wollen weiter forschen. „Für die Nachfahren der Familie Sitzer ist es wichtig, dass wir Walerya nicht vergessen haben“, sagt Eich.