Brilon. Bei Egger wird ein Lkw-Fahrer überfahren. Der Fahrer des Radladers steht wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Vor Gericht gibt es eine Wendung.
Poena naturalis - natürliche Strafe - nennen es Juristen, wenn ein Täter durch seine eigene Tat schon Nachteile erlitten hat, die wie eine Strafe wirken. Ein Beispiel wäre, wenn jemand unabsichtlich eine andere Person durch einen Unfall tötet. Der Täter leidet dann, möglicherweise lebenslang, unter seinen Schuldgefühlen.
Auch der Angeklagte, der an diesem Dienstag wie ein Häufchen Elend vor dem Briloner Amtsgericht sitzt, leidet unter dieser Strafe, noch bevor das Urteil überhaupt gesprochen wurde. Am Ende wird das Verfahren eingestellt, gestraft ist der Mann aber für sein ganzes Leben. Dem im Kasachstan geborenen Angeklagten wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, im Jahre 2021 auf dem Betriebsgelände der Firma Egger einen LKW-Fahrer, der Holz anlieferte, fahrlässig mit einem Radlader überfahren zu haben. Die drei Kinder des Opfers traten vor Gericht als Nebenkläger auf. Auch sie wird dieses tragische Ereignis für den Rest des Lebens begleiten.
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Im Fokus des Prozesses stand die Frage über den Unfallhergang: Wie waren die Fahrspuren voneinander getrennt? Warum stieg der LKW-Fahrer aus dem LKW aus und hätte der Fahrer des Radladers das Opfer überhaupt sehen können? Der Angeklagte ist seit 25 Jahren als Fahrer tätig und fuhr die Unfallstrecke mehrfach am Tag. Der LKW-Fahrer war zum Unfallzeitpunkt erst seit kurzer Zeit bei der Spedition beschäftigt. Um diese Fragen zu klären, wurden seitens des Gerichts mehrere Zeugen, darunter zwei Kriminalbeamte sowie Mitarbeiter der Firma Egger und zwei Sachverständige, geladen.
Angeklagter lässt Entschuldigung verlesen
Zu Beginn der Verhandlung ließ der Angeklagte eine Erklärung durch seinen Anwalt verlesen. Er bat die Familie des Opfers um Entschuldigung und erklärte, dass er selbst unter dem Vorfall leide. Schlafen könne er nur noch mit Medikamenten: „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke“, so der Anwalt im Namen des Angeklagten. Das wird dem ehemaligen Radladerfahrer zum Ende der Verhandlung positiv ausgelegt. Kritik, insbesondere von der Nebenklage, gab es aber daran, dass der Angeklagte diese Stellungnahme nicht selbst vorgetragen habe.
Das sei aber nicht möglich, so die Anwälte des Beklagten: „Unser Mandant ist heute so aufgeregt, dass er sich nicht imstande sieht, etwas zu der Verhandlung beizutragen“, so der Hinweis der beiden Verteidiger aus Köln. Trotzdem versuchte der Vorsitzende Richter, Dietmar Härtel, dem Angeklagten ein paar Antworten zu entlocken, der angibt, den Unfall nicht bemerkt zu haben. Gegenüber dem Richter sagt er jedoch, dass die Fahrspuren durch Holzbohlen getrennt gewesen seien und er seine Schaufel nicht überladen habe: „Ich habe sie ordentlich abgeschüttelt“, nuschelt der Angeklagte. Eine Kamera an dem Radlader der Firma Volvo, vermutlich eine Nachrüstung, würde zwar den vorderen Bereich filmen, der Bildschirm sei jedoch nicht im Blickfeld angebracht. Das wird später auch vom technischen Sachverständigen bestätigt, der die Kamera und insbesondere den winzigen Bildschirm für „nutzlos“ hält. Im weiteren Verlauf des Prozesses verbirgt der Angeklagte sein Gesicht.
Wenig klare Aussage zur Beschilderung
Was die Beschilderung angeht, also ob es zum Zeitpunkt des Unfalls klar abgegrenzte Bereiche der Fahrspuren für Lastkraftwagen, Radladern und Fußgängern gab, blieb diese Frage mehr oder weniger offen. Weder die vorgeladenen Kriminalbeamten noch langjährige Mitarbeiter der Firma Egger konnten dazu eine klare Aussage machen. Der Sachverständige gibt zwar an, dass es Schilder gegeben habe. Diese sind aber auf den Fotos vom Unfallort nicht zu erkennen. Auch eine Trennung der Fahrspuren ist nur in den Zufahrtsbereichen zu erkennen, nicht jedoch im Bereich des Unfalls in der Nähe der Werkshalle. Der damalige Sicherheitsingenieur der Firma Egger trug nur wenig zur Erkenntnis bei. Als er zur Antwort auf eine Frage zu den Sicherheitsvorschriften ansetzte, griff sein Rechtsbeistand ein. Anschließend konnte sich der Ingenieur dann doch nicht mehr erinnern.
Alle Speditionen, mit denen Egger zusammenarbeitet, werden jedes Jahr über die Vorschriften auf dem Werksgelände instruiert, sagte der ehemalige Sicherheitsberater von Egger. Zwar seien die Mitarbeiter der Firma Egger mit Transpondern ausgerüstet gewesen, die vor Fahrzeugen warnen, den LKW-Fahrern sei diese Technik jedoch nicht zur Verfügung gestellt worden.
Zum Zeitpunkt des Unfalls war ein Kranführer bei Egger damit beschäftigt, das Holz vom LKW abzuladen. Den Unfallhergang sah der Egger-Mitarbeiter mit eigenen Augen, fing an zu hupen und ging schließlich zum Betriebsleiter des Unternehmens. Für ihn war klar ersichtlich, dass das Opfer nicht mehr zu retten war. Dies bestätigt auch eine Rechtsmedizinerin im weiteren Verlauf der Verhandlung.
„Auf einmal stand der LKW-Fahrer etwa sechs Meter neben seinem LKW und da war es schon zu spät“. Warum der LKW-Fahrer seinen Platz verlassen habe, obwohl er das eigentlich nicht gedurft hätte, konnte der Kranführer gegenüber dem Gericht nicht sagen. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass das Opfer einen auf dem LKW befestigten Kran bewegen musste, damit der Kranführer das Holz weiter abladen konnte. Um nicht in den Arbeitsbereich des Egger-Krans zu gelangen, sei er zur Beifahrerseite gegangen. Warum er am Ende jedoch so weit vom LKW entfernt stand und damit in den Fahrbereich des Radladers gelangte, kann vor Gericht nicht abschließend festgestellt werden. In den Sicherheitsanweisungen der Firma Egger wird jedoch vorgeschrieben, dass man sich nicht weiter als einen Meter vom LKW entfernen darf. Ob dem Opfer diese Information jedoch jemals zugegangen ist, kann ebenfalls nicht festgestellt werden.
Im Zweifel für den Angeklagten
Der technische Sachverständige zeigte im Laufe seines Vortrags mehrere Varianten auf, wie sich der Unfall ereignet haben könnte. Viele Variablen, wie die Geschwindigkeit, die Höhe der Beladung und das Verhalten des Opfers, waren dabei unbekannt. Deswegen entwarf der Sachverständige unterschiedliche Szenarien. Im für den Angeklagten schlechtesten Fall, hätte der Radladerfahrer drei Sekunden Zeit gehabt, um das Gefährt anzuhalten. In einem anderen Szenario wäre die Reaktionszeit unter einer Sekunde geblieben. Abschließend sei das aber nicht mehr festzustellen, so der Sachverständige. Fest stehe für ihn aber, dass die von Egger getroffenen Maßnahmen teilweise ungeeignet waren, um die Sichtbarkeit von Personen vor der Schaufel des Radladers, die durch die Beladung eingeschränkt sein kann, zu erhöhen. Möglicherweise sei das Opfer auch spontan in den Fahrweg gelaufen und der Fahrer hätte gar keine Chance gehabt, ihn zu sehen. Die Sichtbarkeitsgrenze schätzt er etwa auf zehn Meter ein.
Schon während des Vortrags greift der Richter zur Strafprozessordnung. Er habe große Zweifel, sagte Richter Dietmar Härtel, dass eine Fahrlässigkeit des Angeklagten vorliege: „Wenn ich mir das so anschaue, dann sehe ich eine erhebliche Mitschuld der Firma Egger sowie ein erhebliches Mitverschulden des Opfers, der sich nicht so weit vom LKW entfernen durfte“, so Härtel. Der Angeklagte sei außerdem ein routinierter Fahrer, der die Strecke pro Tag mehrfach abgefahren sei. Möglicherweise sei das Opfer auch zu keinem Zeitpunkt sichtbar gewesen.
Er machte der Staatsanwaltschaft und dem Beklagten daher den Vorschlag, das Verfahren einzustellen. Zu groß seien die Zweifel und zu hoch die Wahrscheinlichkeit, dass nicht das mutmaßliche Handeln des Angeklagten zum Unfall geführt habe, sondern eine Verkettung von Sicherheitsproblemen auf dem Werksgelände der Firma Egger sowie das Handeln des Opfers. Alle Beteiligten stimmten diesem Vorschlag zu. Die Schuldfrage bleibt damit vorerst ungeklärt. Während der Angeklagte trotz Einstellung des Verfahrens weiterhin damit leben muss, eine Person getötet zu haben, müssen die Kinder des Opfers auf ihren Vater verzichten. Gewonnen hat an diesem Tag niemand.