Brilon-Wald/Hochsauerlandkreis. Manuela Marx und Helge Krückemeyer aus Brilon-Wald möchten ihre Tochter in Arnsberg zur Schule schicken. Doch das HSK-Jugendamt stellt sich quer.

Der Familienalltag von Manuela Marx und ihrem Partner Helge Krückemeier aus Brilon-Wald ist anders als der anderer Familien, denn ihre Tochter Amelie ist Autistin. Amelie ist 15 Jahre alt, schreibt gerne, liebt es zu malen und zu zeichnen. Oft lebt Amelie in einer Welt, die sie sich selbst in ihrem Kopf aufgebaut hat. Sie ist eine atypische Autistin mit Zwangsstörungen. Die Zwänge schränken sie in ihrem Alltag ein. Seit der Diagnose hat sich das Leben der Familie verändert. Und Manuela Marx’ Alltag besteht plötzlich aus Bürokratie. Aus Bescheiden vom Amt, aus schriftlichen Widersprüchen, aus Rechtstexten und Erschöpfung. Denn gemeinsam mit ihrem Mann Helge Krückemeier kämpft sie dafür, dass ihre Tochter an die Schule zurückkehren kann, die sie seit der Pandemie nicht mehr besucht. Ein schwerer Kampf, denn die Familie fühlt sich nicht genügend unterstützt.

Als die Schule wieder beginnt, kann sie nicht zurück

Manuela Marx lächelt ihre Tochter an. Es ist Amelies Geburtstag. Sie ist 15 geworden. Brownies stehen auf dem Tisch, eine Kerze verströmt intensiven schweren Duft. Amelie trinkt einen Schluck Saft, doch die Kuchen-Krümel stören am Rand des Glases. „Ich hole einen Strohhalm“, sagt Helge Krückemeier, ihr Stiefvater. Amelie nimmt ihre Welt intensiver wahr, als andere Menschen. Detailreicher. Reize überfluten sie schnell, dann wird ihr alles zu viel. Dann schaltet sie ab. Ohne Lernbegleitung, ohne Hilfe, kann Amelie auch nicht in die Schule gehen. Dafür kämpfen ihre Eltern. Jeden Tag. Seit der sechsten Klasse, seit Corona, geht Amelie nicht mehr regelmäßig in die Schule. Ihre damalige Schulbegleitung, gestellt vom Hochsauerlandkreis, ist schwanger geworden. Manuela Marx reduziert ihre selbstständige Arbeit und beginnt, ihre Tochter beim digitalen Unterricht zu unterstützen – trotz finanzieller Einbußen. Als die Schule wieder beginnt, kann sie nicht zurück. Es fehlt eine Schulbegleitung. Irgendwann findet sich eine Integrationskraft, sie hört bald wieder auf. Die Familie stürzt diese Ungewissheit in ein Chaos. Amelie geht nun in die Web-Schule, lernt digital und schreibt gute Noten. Aber sie vermisst die Schule.

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Oft lebt Amelie in einer Welt, die sie sich selbst in ihrem Kopf aufgebaut hat. Sie ist eine atypische Autistin mit Zwangsstörungen.
Oft lebt Amelie in einer Welt, die sie sich selbst in ihrem Kopf aufgebaut hat. Sie ist eine atypische Autistin mit Zwangsstörungen. © WP | Jana Naima Schopper

Größtes Problem derzeit: Die finanzielle Unterstützung

Manuela Marx Gesicht ist ernst, wenn sie von den verschiedenen Bescheiden erzählt. Von der Web-Schule, von den Plänen einer Reintegration, von rechtlichen Grundlagen und Runderlassen. Das Paar erzählt von Therapeuten, von Gesprächen mit dem Jugendamt und der Schule und der Bezirksregierung. Von Problemen und Lösungsvorschlägen aus der Vergangenheit, die für Autisten schier unmöglich zu bewältigen sind, denn nichts davon war wirklich planbar. Größtes Problem derzeit: Die finanzielle Unterstützung. Manuela Marx und Helge Krückemeier haben eine Frau gefunden, die die Begleitung von Amelie in die Schule nach Arnsberg an zwei Tagen pro Woche übernehmen würde, wenn Sie von den Eltern beschäftigt würde. Dieses Modell der Unterstützung durch ein persönliches Budget lehnt das Jugendamt ab. Als Begründung führt das Jugendamt unter anderem aus, dass es nicht dem vom Gesetzgeber angedachten Zweck einer Stärkung der Eigenständigkeit durch die erhöhte eigene Verantwortung mit Hilfe der alternativen Leistungsform entsprechen würde. „Das Jugendamt nimmt also die drohende Isolation in Kauf, obwohl die Genehmigung in Nachbarkreisen üblich und teilweise sogar bereits als Option zum Ankreuzen auf dem Antrag für eine Schulbegleitung zu finden ist. Auch werden eingeschränkte Geschäftsfähigkeit und das Krankheitsbild angeführt, obwohl der Gesetzgeber klar sagt, dass die Eltern dies für ihre Kinder beantragen können und diskriminierender kann man sich kaum verhalten, denn der Gesetzgeber sieht das persönliche Budget für jede Art und Schwere von Behinderung vor.“ So formuliert das Paar ihre Kritik in einer Petition auf change.org, die sich an den Landrat Dr. Karl Schneider richtet.

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Denn gegen die Ablehnung des persönlichen Budgets kämpfen Manuela Marx und Helge Krückemeier wie wild. Wenn Amelie am Abend ins Bett geht, lesen die beiden sich in die Rechtslage ein. Schreiben Briefe, kontaktieren Anti-Diskriminierungsstellen, formulieren Widersprüche und Anträge. „Das waren früher alles böhmische Dörfer für mich. Da musste ich mich erst einarbeiten“, sagt Manuela Marx. Für die Eltern ein harter Kampf. Manuela Marx besucht Stressmanagement-Kurse, versucht auf ihre Gesundheit zu achten. Doch der Stress nimmt der Familie Lebensqualität. Ihnen fehlt Zeit für das Zwischenmenschliche. Immer wieder hat Manuela Marx Neurodermitisschübe. Doch sie kämpfen trotzdem weiter. Es ist doch ihr Kind. Es soll doch die beste Ausbildung bekommen, das Beste im Leben.

Amelie Marxmit ihren Eltern Manuela Marx und Helge Krückemeyer.
Amelie Marxmit ihren Eltern Manuela Marx und Helge Krückemeyer. © WP | Jana Naima Schopper

Jugendamt im Hochsauerlandkreis bezieht auf WP-Anfrage Stellung

Das Jugendamt im Hochsauerlandkreis bezieht auf WP-Anfrage Stellung zu dem Fall. „Familie Marx - insbesondere Amelie - werden aktuell mehrere Eingliederungshilfen und Hilfe zur Erziehung durch das Jugendamt kumulativ gewährt“, heißt es. Unter anderem betreffe dies auch eine Integrationskraft. Es sei richtig, dass das Persönliche Budget abgelehnt worden sei, obwohl es – allgemein betrachtet – für die Bezahlung einer Schulbegleitung eingesetzt werden könne. „Im vorliegenden Fall ist durch die Komplexität des Bedarfes bereits hinreichend auf die Notwendigkeit einer Gesamtsteuerung der Vielzahl der Hilfen hingewiesen worden. Die fehlende Kontinuität in der Betreuung und Ausgestaltung der bewilligten und eingesetzten I-Kraft ist aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen bislang gescheitert“, argumentiert das Jugendamt.

Würde Amelie ein Gymnasium in der Nähe ihres Heimatortes besuchen?

Weiter erklärt das Jugendamt gegenüber der WP: „Die Hilfeplanung bezüglich der jeweiligen Hilfen ist korrelativ auszurichten und zu betrachten. Beispielsweise sind Inhalte einer Hilfe auch für die Ausgestaltung der anderen Hilfsformen unerlässlich, damit eine angemessene als auch bedarfsgerechte Unterstützung erfolgen kann.“ Das Persönliche Budget müsse gewährleisten, dass die Mittel für eine solche Unterstützung ziel- und erfolgsorientiert eingesetzt werden. Eine kommunikative und übereinstimmende Verständigung aller Beteiligten im Rahmen der Hilfeplanung sei eine Voraussetzung für das Gelingen eines erfolgreichen Hilfeprozesses. „In der Vergangenheit hat sich die Ausgestaltung der gewährten Integrationskraft bei allen beteiligten Leistungsanbietern mehr als schwierig gestaltet. Dieses begründet sich einerseits in dem komplexen Anforderungsprofil aufgrund des Unterstützungsbedarfes von Amelie und andererseits in den Herausforderungen bei der Erfüllung der strukturellen Rahmenbedingungen“, so das Jugendamt. Das Jugendamt sieht in diesem Zusammenhang die weite Entfernung zwischen Brilon-Wald und Arnsberg, wo Amelie zur Schule geht, kritisch. „Diese pädagogische Haltung wird auch seitens der Bezirksregierung und Schulleitung geteilt. Damit hilft dann eine reine Geldleistung für die Schulbegleitung auch nicht. Würde Amelie ein Gymnasium in der Nähe ihres Heimatortes besuchen, ist die Wahrscheinlichkeit einer kontinuierlichen Begleitung gewährleistet. Damit einhergehend würde sich der Schulweg reduzieren und somit Belastungs- und Überforderungsmomente minimieren.“ Ein Schulwechsel kommt aber, laut Amelies Eltern, nicht in Frage. Die Psychologin rate davon ab, zu viel Veränderung für Amelie.

Sie wollen kämpfen und gehen dabei über ihre Kräfte hinaus

Mittlerweile finanzieren Manuela Marx und ihr Mann die Kosten für die Schulbegleitung, die nicht geleistet werden, selbst, sie gehen in Vorleistung. Sammeln nun auch im Netz Spenden für Amelie. Sammeln Unterschriften für ihre Petition. Sie wollen kämpfen und gehen dabei über ihre Kräfte hinaus.

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Wie soll es jetzt weitergehen? „Man will Amelie in ein Pilotprojekt der Bezirksregierung Arnsberg für einen sogenannten erweiterten Hausunterricht (Pilotprojekt für eigene Onlineschule) drängen obwohl von einem solchen Wechsel abgeraten wird, legt aber die rechtlichen Grundlagen und Runderlasse dafür nicht offen“, heißt es im Text der Petition. Manuela Marx sagt: „Da müssen wir nun rein, auch wenn es nach Einschätzung der Therapeuten dadurch sehr wahrscheinlich zu Rückschritten oder Verschlechterungen kommen kann. Sie wird in dieses Pilotprojekt gedrängt, weil sie nur so der Schulpflicht nachkommen kann.“

Manuela Marx lässt sich von ihrer Tochter umarmen. Ganz plötzlich drückt Amelie sie manchmal an sich, liebevoll. „Das ganze bringt uns aber auch zusammen. Man gewinnt an Selbstwert. Wir wollen zeigen, dass wir da sind. Dass wir von Bedeutung sind. Das macht uns stark.“