Hallenberg. Hallenberg spielt die Passion: Wie sich 150 Mitwirkende vorbereiten und wie es sich für den Jesus-Darsteller anfühlt, erstmals am Kreuz zu hängen.
Über das Golgotha des Sauerlandes fegt der kalte Wind der Eisheiligen. Zum ersten Mal hängt Philipp Mause an diesem Mai-Abend am Kreuz. Er hat es selbst aus massivem Leimbinder gezimmert, denn das alte war morsch geworden. Vor wenigen Minuten hat ihn der Hohe Priester Kaiphas - gespielt von Philipps Vater Helmut - den Römern ausgeliefert. Nun kommt die Sterbeszene. Nur mit einem Leinenschurz bekleidet und mit einer Dornenkrone auf dem Kopf hält sich Philipp an den Eisenringen des Kreuzes fest. Das Zittern, das Sterben, die Verzweiflung zu spielen – all das hält ihn warm. Gänsehaut bekommen andere. Als die 147 Mitwirkenden den Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ anstimmen, läuft jedem ein Schauer über den Rücken…
Seit 1950 wird Passion gespielt
Eine Stadt spielt Passion mit Passion. Seit 1950 steht die Geschichte vom Leiden, Sterben und der Auferstehung Jesu Christi alle zehn Jahre auf dem Spielplan der Freilichtbühne. Gut und gerne 280.000 Gäste ließen sich seitdem von der biblischen Inszenierung berühren. Passion – das ist in der Kleinstadt Hallenberg eine eigene Zeitrechnung. Denn mancher zählt, wie oft er schon dabei war oder vielleicht noch dabei sein kann. Jüngster Mitspieler ist der einjährige Hugo Weber, der noch gar nicht allein laufen kann. Ältester Akteur ist der 79-jährige Wolfgang Kaiser, der seit 42 Jahren mit auf der Bühne steht. Seinem Vater hat er einst das Versprechen gegeben, bei der Passion mitzuspielen, solange es ihm möglich ist. Er hält sich daran.
Regisseur Uwe Bautz hat an diesem Abend ein Megaphon dabei. Er unterbricht selten und wenn, dann arbeitet er seinen Zettel mit Anmerkungen chronologisch ab: „Maria! Du fängst erst dann mit dem Schluchzen an, wenn Jesus vom Kreuz abgenommen wurde. Der römische Hauptmann muss das Pferd früher drehen. Und bitte sprecht deutlich. Es heißt ,Herrrrr‘ und nicht Hääar!“
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Eine eigene Zeitrechnung
Passion - das ist in Hallenberg etwas Besonderes. Für viele noch äußeres Zeichen einer inneren Glaubenseinstellung, für einige aber inzwischen auch nur ein historisches Bühnenstück wie viele andere auch. Manche Männer lassen seit Herbst vergangenen Jahres Haare und Bärte wild sprießen. Aber längst nicht alle. Einige Männerrollen werden von Frauen gespielt. Überhaupt: „Unsere Spielschar besteht diesmal zu zwei Dritteln aus Frauen und zu einem Drittel aus Männern. Allein 38 Kinder sind dabei“, sagt Bühnensprecher Georg Glade, rückt seine Kopfbedeckung zurecht und nestelt an seinem Gewand. Alles handgemacht in der Bühnenschneiderei. Für die scheinbar güldenen Knöpfe der Talare wurden hunderte Kronkorken von Bierflaschen platt geklopft. Sieht edel aus.
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Vergangenes Jahr glänzte Georg Glade noch in dem Kiez-Musical „Heiße Ecke“ als hochhackige Dragqueen. Jetzt sitzt er im Hohen Rat. Von der sündigen Meile zur Via Dolorosa – so einen Spagat schafft nur Theater.
Die Passion ist auch in Hallenberg in erster Linie ein Theaterstück. Trotzdem schwebt ein Hauch von Ehrfurcht und besonderem Fingerspitzengefühl über der Szenerie. Auch wenn Uwe Bautz, der von großen Profi-Bühnen kommt, in seiner zweiten Hallenberger Regiearbeit alles andere abliefern möchte, als ein heilig-frommes Evangelium. Fern von Weihrauch und Weihwasser geht es ihm um den Menschen Jesus Christus. „Ich möchte die Geschichte aus ihrer Verklärung herausnehmen. Die Spieler sollen so sprechen, wie es ganz normale Menschen heute auch tun. Es geht um historische Personen, die mit politischen Verhältnissen in Konflikt geraten und daran gescheitert sind.“
Gern wird Hallenberg als das Oberammergau des Sauerlandes tituliert. Aber Motivation und Umsetzung könnten nicht unterschiedlicher sein. An den Passionsspielen in Bayern wirken 2100 der 5200 Einwohner mit. Zu rund 100 Vorstellungen kommen an die 450.000 Zuschauer. Mit knapp 4400 Sitzplätzen ist das Passionstheater Oberammergau die größte Freiluftbühne mit überdachtem Zuschauerraum der Welt. Hallenberg bringt es auf 22 Aufführungen, 1400 Sitzplätze, erwartet weit über 20.000 Besucher und hat mit Hinblick auf die enorme Belastung für die ehrenamtlichen Schauspieler/innen die Zahl der Aufführungen schon auf 22 heruntergeschraubt. Früher waren es auch schon mal 30. Es gab sogar Zusatztermine.
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Merchandising-Artikel wie Holzkreuze, Sticker oder Bildbände sucht man hier vergebens. Die Eintrittskarten kosten für Erwachsene zwischen 12 und 14 Euro, weniger als ein Zehntel der Preise von Oberammergau. Anderthalb Stunden vor jeder Aufführung rücken die Akteure heutzutage an: Garderobe, Maske, Einsingen, Soundcheck – Schauspielerei wird zur Passion, die viele Opfer abverlangt. Rund 12.000 Kartenvorbestellung liegen bislang vor. Die Schützen im Sauerland haben einen Termin komplett gebucht. Passion im Sauerland – das zieht noch.
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Neben Uwe Bautz läuft ein weiterer Mann am Bühnenrand sehr aufmerksam von links nach rechts. Es ist Stefan Wurz. Eigens für ihre „Passion“ haben die Hallenberger bei dem Hildesheimer quasi den Soundtrack einer Kreuzigung in Auftrag gegeben. „Wir wollen das Ganze aber dort verorten, wo es spielt – nämlich im Nahen Osten. Wir werden es gar nicht so tonal, christlich deutsch klingen lassen, sondern eher ein bisschen arabisch“, verrät Wurz.
Proben-Schluss: Philipp Mause hat als Jesus die erste Kreuzigung hinter sich. Es ist vollbracht, er ist geschafft. Der 32-Jährige hat heute Abend sehr intensiv gemerkt, welche Energie ihm von seinen 146 Mitspielerin entgegen schwappt. „Ans Kreuz mit ihm!“ – das hat er körperlich gespürt.
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Eigentlich wollte sich der Hallenberger, der beim Heizungshersteller Viessmann arbeitet und sonst eher für komische und smarte Rollen bekannt ist, gar nicht für den Jesus bewerben. „Ich war der Meinung: der Jesus ist nichts für mich. So, wie ich ihn zu dem Zeitpunkt gesehen habe, war das keine Rolle, mit der ich mich hätte identifizieren können. Ich bin auch schon mal launisch, kann laut werden und würde manche Sachen anders regeln, als er es vermutlich getan hätte.“
Er habe aber trotzdem für die Rolle vorgesprochen, weil er neugierig sei und sich ausprobieren wolle. Bei den Vorbereitungen habe sich dann gezeigt, dass es doch viele Parallelen gebe, die er so vorher gar nicht gesehen habe. „Jeder legt die Rolle anders an. Man kann die Jesusse vergangener Jahre nicht miteinander vergleichen. Ich finde es spannend, dem Jesus meine Art einzuhauchen“, sagt der unkomplizierte junge Mann, der seit seinem 2. Lebensjahr auf der Freilichtbühne steht und bei der Passion auch Spielleiter ist.
Es wird dunkel auf der Bühne. Gespenstisch spielt der Wind mit den langen Leinentüchern, die um das leere Kreuz wehen. Nicht nur Golgotha in Hallenberg ist bereit.