Hochsauerland/Paderborn. „Dramatisch“ nennt der Sauerländer EU-Abgeordnete Dr. Peter Liese die Situation in der Kindermedizin. Was er fordert, wie er die Lage ändern will:

Kleines Virus, große Wirkung: Eine heftige Infektwelle des RS-Virus, volle Kindernotaufnahmen und eine große Lücke an Fachpersonal haben seit Mitte Dezember für mitunter dramatische Situationen in Deutschlands Kinderkliniken gesorgte - auch in Paderborn. Dort sendete die Kinderklinik St. Louise einen Hilferuf, der sich wie ein Lauffeuer verbreitete (wir berichteten). Mehr als 80 Freiwillige meldeten sich daraufhin, um zu unterstützen. Darunter waren Sanitäter, Studierende, Feuerwehrleute und auch Gesundheits- und (Kinder-) Krankenpfleger sowie Medizinische Fachangestellte. Einer von ihnen war der heimische Europaabgeordnete Dr. Peter Liese, der in der sitzungsfreien Zeit des Parlaments in Paderborn mitgearbeitet hat. Die Situation hat auch ihn schockiert.

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Gesundheitssystem in seine Schranken gewiesen

Sie sind selbst Arzt, waren vor 30 Jahren Assistenzarzt in der Paderborner Kinderklinik und haben jetzt in der sitzungsfreien Zeit an Ihrer alten Wirkungsstätte ausgeholfen. Hat es Sie nicht auch überrascht, dass eine heftige Infektwelle das Gesundheitssystem offenbar so schnell in seine Schranken weisen kann?

Ich wusste theoretisch aus Berichten, dass die Situation in den Kinderkliniken dramatisch ist. Wenn man es aber konkret erlebt, ist es doch noch einmal etwas Anderes. Ich habe noch mal viel über die Situation, vor allem über die Überlastung der Kinderkliniken und über das RS-Virus gelernt.

Außenaufnahme der Frauen- und Kinderklinik St. Louise in Paderborn. Von dort kam im Dezember ein Hilferuf wegen Überlastung durch das RS-Virus.
Außenaufnahme der Frauen- und Kinderklinik St. Louise in Paderborn. Von dort kam im Dezember ein Hilferuf wegen Überlastung durch das RS-Virus. © WP | St. Vincenz-Krankenhaus GmbH

Was hat Sie persönlich, menschlich bei Ihrem Freiwilligen Einsatz besonders berührt und nachhaltig beschäftigt?

Mich hat besonders beeindruckt, dass es Pflegekräfte gibt, die unentgeltlich jede Woche Nachtdienste in der Kinderklinik machen, um in dieser schwierigen Situation zu helfen. Medizinisch war besonders interessant, dass Corona überhaupt kein Problem mehr war, aber das RS-Virus ein Riesenproblem. 50 Prozent der Kinder, die wir behandelt haben, litten am RS-Virus. Das ist für meine politische Arbeit jetzt besonders wichtig. Ich setze mich zum Beispiel für eine zügige Bearbeitung der Zulassungsanträge für einen Impfstoff ein.

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Was läuft - politisch oder gesellschaftlich betrachtet - falsch, dass es in den Kliniken an Fachpersonal mangelt?

Die Kindermedizin ist seit Jahren unterfinanziert. Das weiß ich beispielsweise auch durch die Zusammenarbeit mit der Kinderklinik in Siegen. Hier ist es besonders dramatisch, weil die Kinderklinik in Siegen eigenständig ist und nicht wie an anderer Stelle, wie zum Beispiel in Paderborn, Kindermedizin durch Erwachsenenmedizin quersubventioniert werden kann. Ich habe seit vielen Jahren auf das Problem hingewiesen. Es hat sich leider wenig verbessert. Hier muss jetzt schnell etwas geschehen. Es ist auch sehr fraglich, ob die Abschaffung der separaten Ausbildung für Kinderkrankenpflege richtig ist. Dies könnte den Fachkräftemangel noch einmal verschärfen.

Strukturelle Probleme beheben

Während sich Politik in den letzten drei Jahren zu Recht intensiv um das Corona-Virus und COVID-19 gekümmert habe, müsse man jetzt andere Prioritäten setzen, fordert der heimische Europaabgeordnete Dr. Peter Liese. „Corona ist im Wesentlichen überstanden, auch weil wir wirksame Impfstoffe haben“. Nun müsse es darum gehen, strukturelle Probleme in der Kindermedizin zu beheben.

Thematisiert wurde dieser Notstand unlängst in einer Videokonferenz. Teilnehmer waren sein Namensvetter Prof. Dr. Johannes Liese (nicht verwandt oder verschwägert), Leiter des Bereichs pädiatrische Infektiologie und Immunologie des Uniklinikums Würzburg und Koordinator der Leitlinie für RSV-Prophylaxe der medizinischen Fachgesellschaften. Und mit dabei auch Kinderkrankenschwester Petra Köster-Hoffmeister, die in der Kinderklinik Paderborn arbeitet und praxisnah berichten konnte.

Prof. Liese sagte u.a.: „Aufgrund der ausgeprägt starken Welle an RSV und anderen Infektionskrankheiten sowie der strukturell und finanziell nicht ausreichend ausgestatteten ambulanten und stationären Kindermedizin kam es in den letzten Monaten zu einer Situation, in der die medizinische Versorgung von erkrankten Kindern deutlich eingeschränkt war und oft nicht mehr unseren Qualitätsstandards genügte.“

Kinderkrankenschwester Petra Köster-Hoffmeister beschrieb die Auswirkung auf Kinder, Eltern und Pflegepersonal, insbesondere den sehr großen Betreuungsaufwand für die Kinder mit RS: „Mit dem Personal vor Ort kann man so eine große Anzahl von schwersterkrankten Kindern durch das RS-Virus nicht bewältigen.“

Dr. Peter Liese hat nun einen Forderungskatalog erarbeitet hat und Briefe an die Europäische Kommission, die Europäische Arzneimittelagentur und die Bundesregierung geschrieben. Die wichtigsten Forderungen sind u.a. eine bessere Ausstattung der Kinderkliniken in Deutschland, ein nationales Register zu Erfassung der RS-Infektionen, bessere Forschungsförderung, eine Vernetzung der Kinderkliniken, damit ähnlich wie bei COVID-19 unkompliziert erfasst werden kann, wo noch Behandlungsmöglichkeiten bestehen und die möglichst schnelle Zulassung eines Impfstoffs - falls die Daten ergeben, dass der Impfstoff sicher und wirksam ist.

In den USA ist ein Impfstoff bereits im Zulassungsverfahren. „Wenn alles gut läuft, wird die nächste RS-Saison wesentlich weniger dramatisch, weil wir dann insbesondere für Neugeborene einen Impfstoff haben“, betonte der Arzt und Europaabgeordnete. Der Impfstoff wird schwangeren Frauen in der letzten Phase der Schwangerschaft verabreicht, die daraufhin schützende Antikörper gegen das RSV-Virus bilden und diese vor der Geburt auf ihr Kind übertragen. Hier dürfte im Vorfeld viel Aufklärungsarbeit nötig sein.

Was können Sie politisch bewegen, um diesen Zustand zu ändern? Krankenhäuser sind ja keine EU-Angelegenheit. Auf dem Krankenhaus-Sektor ist ja momentan viel im Umbruch. Was gilt es Ihrer Meinung nach bei allen Reformen zu bedenken?

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Die Finanzierung der Kliniken, zum Beispiel durch die sogenannten Fallpauschalen, ist eine Bundesangelegenheit. Hier muss die Bundespolitik dringend reagieren. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und deswegen muss die Fallpauschale bei Kindern auch deutlich höher sein, weil der Betreuungsaufwand sehr viel höher ist - zum Beispiel weil Kinder sich nicht so gut äußern können und man auch mit den Eltern reden muss. Außerdem gibt es zurecht Überlegungen, die Fallpauschalen nicht als alleiniges Kriterium für die Finanzierung heranzuziehen, sondern auch die Grundversorgung mit einzubeziehen. Nach meinem Klinikaufenthalt habe ich mich an alle politischen Ebenen gewandt. An die Bundesregierung, insbesondere was die bessere Ausstattung der Kinderkliniken angeht, an die Europäische Kommission, was zum Beispiel die Zulassung von Impfstoffen und die Forschung bezüglich Therapien und Prävention von RS-Viren angeht, aber auch an die Landesregierung. Alle politischen Ebenen müssen das jetzt zur Priorität machen.

In Kinderkliniken kommen zu wenig Mittel an

Liegt das Problem im Gesundheitswesen nicht letztlich immer darin begründet, dass kostendeckend gearbeitet werden muss – was (ähnlich wie im Bereich Kultur) doch überhaupt nicht möglich ist?

Natürlich darf es auch im Gesundheitswesen keine Verschwendung geben und die Mittel müssen letztendlich auch effizient eingesetzt werden. Im Zentrum muss aber das Wohl der Patientinnen und Patienten stehen. Das gilt für Kinder umso mehr.

Gibt es europäische Länder, wo es anders oder sogar besser läuft?

Die Situation war in den letzten Monaten in allen europäischen Ländern schwierig. In Irland beispielsweise waren die Kliniken noch viel stärker am Limit als in Deutschland. Aber das darf kein Trost sein. Wir sind eines der reichsten Länder Europas und geben extrem viel für Gesundheit aus. In den Kinderkliniken kommt davon zu wenig an.