Brilon. Drogenbeschaffung ist auch im Sauerland kein Problem. Die langjährige Leiterin der Caritas-Beratungsstelle erzählt, wie sich Sucht verändert hat:
Niemand wird einfach so süchtig. Hinter jeder Abhängigkeit steckt eine individuelle Lebensgeschichte. Für Fachleute ist schnell nachvollziehbar, warum ein Mensch versucht, seine Probleme mit Suchtmitteln zu lösen. Für Betroffene nicht; sie brauchen dabei Hilfe. Süchtig sein, heißt krank sein. Und für eine Krankheit muss sich niemand schämen. Süchtige sind sehr sensible Menschen. Und allein kommen sie nicht weg von ihrer Sucht. Das sind starke Sätze. Sie stammen – inhaltlich wiedergegeben - von Liliane Schafiyha-Canisius. Zum Jahresende geht sie als Leiterin der Caritas-Suchtberatung in den Ruhestand. 50 Jahre gibt es diese Anlaufstelle. Zwei Gründe, um das Thema in den Focus zu rücken.
„Jeder Mensch, mit dem ich hier zusammengesessen habe, ist für mich wie ein Buch. Man schlägt die ersten Seiten auf, man weiß nicht, was einen erwartet. Mehr und mehr beschäftigt mich die Geschichte, verstehe ich ihre Entwicklung.“ Liliane Schafiyha-Canisius hat viele menschliche Bücher aufgeschlagen. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Suchttherapeutin, Heilpraktikerin (Psychotherapie), Traumatherapeutin und in erster Linie Mensch. Mit Empathie. 1958 bei Köln geboren hat sie vieles ausprobiert, gezeichnet, Musik gemacht, selbst Krisenzeiten erlebt, ist an Grenzen gestoßen. „Ich kenne vieles von dem, was meine späteren Klienten und Klientinnen erlebt haben. Das war die Motivation, mich für sie einzusetzen.“
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Nach Arbeit in Kinder- und Jugendheimen und als Gruppentherapeutin in einer Fachklinik in Bad Fredeburg wechselte sie zur Suchtberatung des Caritasverbandes Brilon, die sie seit 2014 leitet – lange Zeit mit Standort in der Scharfenberger Straße, seit dem Frühjahr an der Oberen Mauer in Brilon.
Allein mit seinen Problemen
Weihnachten und Jahreswechsel – das sind keine fröhlichen Zeiten für Menschen, die alleine sind – mit sich und ihren Problemen. Auch das Sauerland ist kein Land der Sorglosigkeit, kein Land des Lächelns. Vor Corona waren es in der Haupt-Beratungsstelle in Brilon und in den Außenstellen Meschede, Marsberg, Winterberg und Bad Fredeburg 600 Kontakte im Jahr, jetzt hat sich die Zahl bei 500 eingependelt. Hinter dem statistischen Begriff „Kontakte“ stehen 600 persönliche Schicksale. „Die Wenigsten sind nur alkoholabhängig. Zunehmend kommen illegale Drogen parallel dazu. Und dann gibt es natürlich noch die Palette von Party-Pillen“, sagt Liliane Schafiyha-Canisius.
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Drogen kein städtisches Problem
Wer glaubt, für die Drogenbeschaffung ins Ruhrgebiet fahren zu müssen, ist offenbar blauäugig. „Die gibt es auch im Sauerland an jeder Ecke.“ Männer werden häufiger abhängig – vor allem von Alkohol. Frauen verfallen eher der leisen Sucht: Medikamentenabhängigkeit, oft gepaart mit Alkohol. Und dann gibt es noch die Spielsucht (vielfach Patienten mit Vater-Sohn-Problematik). Die Sucht den einarmigen Banditen zu bezwingen, die Sucht mit menschlichen Beziehungen zu spielen, die Sucht nach dem Kick – die oft im Suizid endet.
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Nicht jeder, der abends ein Gläschen Wein trinkt, ist auf dem Weg zum Alkoholiker. „Wer das in einem normalen Maß macht, muss sich nicht sorgen. Problematisch wird es an der Stelle, wo ich ein Suchtmittel bewusst nutze, um meine Stimmung zu verbessern. Wenn ich statt eines Glases gleich vier Gläser trinke, wenn ich es nicht mehr kontrollieren kann, wenn ich meinen Alltag darauf ausrichte und ohne das Mittel Entzugserscheinungen habe, zittere und schweißnasse Hände bekomme.“
Fatale Irrtümer
Fataler Irrtum aller Suchtkranken:. „Sie glauben, sie schaffen es alleine, davon weg zu kommen.“ Fataler Verlauf aller Suchterkrankungen: „Die Menschen kommen zu spät zu uns. Viele sind schon 50 oder 60 Jahre alt und lange abhängig, haben ihre Familie, ihre Arbeit, ihren Führerschein – und ihre Selbstachtung verloren.“
Infos
Ihren Anfang hatte die Suchtberatungsstelle 1971 in Meschede und zog dann 1973 nach Brilon um. Die Sucht- und Drogenberatung des Caritasverbandes Brilon ist in der Oberen Mauer 1 untergebracht und telefonisch unter 02961 7799770 oder per Mail unter psbb.brilon@caritas-brilon.de zu erreichen.
Das Team besteht aus qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bereiche Sozialarbeit, Psychologie und Medizin. Alle verfügen über eine Zusatzqualifikation oder langjährige Erfahrung in der Suchtkrankenhilfe.
Auf Wunsch gehen die Fachleute auch in Firmen und Betriebe, um bei der Entwicklung von Konzepten zur Suchtvorbeugung zu unterstützen.
Die Geschichte einer Sucht ist oft nicht nur eng verbunden mit der Geschichte eines Lebens, sondern mit dem ganzer Generationen. „Bei der Therapie ist es wichtig, dass die Klienten verstehen und nachvollziehen können, warum sie abhängig geworden sind. Und sehr häufig liegt der Ursprung schon bei den Großeltern. Es geht um nie verarbeitete oder ausgesprochene Kriegserinnerungen, die oftmals auch in Alkohol ertränkt wurden. Oft sind da Menschen, die ihre Leben lang verhärmt und verschlossen waren, die nie einen anderen in den Arm genommen haben, die vielleicht gewalttätig waren“, erklärt Liliane Schafiyha-Canisius. Was mag der Krieg in heutigen Zeiten für Spätfolgen nach sich ziehen?
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Die Fachfrau spricht von Patienten, vor denen sie großen Respekt hat, von Menschen, die mitunter auch nur dank ihrer Sucht überlebt haben. „Das Substitut für den Alkohol ist die Therapie. Im Gespräch wandern wir zurück an entscheidende, wegweisende Punkte im Leben. Wir schaffen ein neues Selbstwertgefühl, stärken das Selbstbewusstsein und machen deutlich, wie wichtig es ist, auf sich und auf Lebensqualität zu achten.“
Keine Blaupausen für Suchterkrankungen
Es gibt keine Blaupause für alle Sucht-Schicksale. Und Liliane Schafiyha-Canisius ist froh, dass sie auf ein gutes Netzwerk von Kooperationspartnern wie z.B. Selbsthilfegruppen zurückgreifen kann. Dorthin werden die Klienten in der Regel übergeben. Denn nach der Sucht bleibt es eine lebenslange Aufgabe, die einmal gelegte Suchtspur nicht wieder zu betreten. „Wer ein Suchtproblem hat und nicht zu uns kommt, der verpasst sehr viel. Wir helfen dabei, das Leben umzukrempeln, das Verhalten zu ändern. Jeder in der Therapie gibt sich die Chance, die Scham abzulegen, Belastendes hinter sich zu lassen, es zu verarbeiten und zu einer neuen, inneren Zufriedenheit zu kommen. So schwer es auch ist, man muss durch den Schmerz, um wieder offen zu sein für Dinge, die Freude machen.“ Starke Sätze, ermutigende Sätze…