Olsberg. Schon die kleinsten Hürden können für die Rollstuhlfahrerin Raphaela Schröder zum unüberwindbaren Hindernis werden.

Raphaela Schröder ist eine aufgeweckte junge Frau. In ihrer Freizeit guckt sie gerne die neuesten Serien bei Netflix oder trifft sich mit ihren Freunden. Aktuell macht sie am Berufskolleg in Olsberg ihr Abitur. Eigentlich ist Raphaela wie jedes andere Mädchen, aber etwas ist anders. Sie leidet an Spinaler Muskelatrophie und ist auf einen Rollstuhl angewiesen, kann nicht selbstständig stehen. Sie gilt damit als behindert. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: sie wird vor allem behindert. Durch Krankenkassen, Rollstuhlhersteller, Bürokratie aber ganz besonders durch eine veraltete Gebäude-, Verkehrs- und Städteplanung, die in der Vergangenheit nur wenig Wert auf Barrierefreiheit gelegt hat.

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Unsichtbare Hürden

Inklusion in der Schule

Schulbegleitung ist eine Leistung der Eingliederungshilfe. Kinder und Jugendliche haben dann einen Rechtsanspruch auf diese Hilfe, wenn ihre Teilhabe an Bildung aufgrund einer zugeschriebenen Behinderung eingeschränkt oder bedroht ist.

Die Lebenshilfe HSK bietet Schulbegleitung für Kinder und Jugendliche an allen Schulformen an und trägt mit ihren 130 Schulbegleitern aktiv dazu bei, Kindern und Jugendlichen das gemeinsame Lernen mit allen Schülern zu ermöglichen.

Bei Fragen rund um die Beantragung einer Schulbegleitung oder wenn Sie ein Kind oder einen Jugendlichen im Schulalltag begleiten möchten, erreichen Sie die Lebenshilfe HSK unter schulbegleitung@lebenshilfe-hsk.de oder 02961/96950

Viele Hürden sind dabei für andere unsichtbar. Schon eine kleine Stufe oder eine zu hoch angebrachte Türklinke kann für Raphaela zum unüberwindbaren Hindernis werden. Deshalb ist sie auf Hilfe angewiesen. Zu Hause können ihr ihre Eltern oder ihre drei Geschwister unter die Arme greifen. In der Schule ist sie aber auf fremde Hilfe angewiesen.

Auf Schulbegleitung angewiesen

Für die Schulzeit bekommt sie daher eine Schulbegleiterin an die Seite gestellt, die dafür von der Lebenshilfe beauftragt wird. Seit August kümmert sich Olga Kempel um Raphaela. Die 46-Jährige ist erst vor kurzem auf die Schulbegleitung aufmerksam geworden und hat sich dann bei der Lebenshilfe über die Aufgabe informiert: „Ich war gerade an einem Punkt in meinem Leben, wo ich etwas verändern wollte“, erzählt sie. Nun hilft sie Raphaela bei der Bewältigung ihres Schulalltags. Sie schreibt mit, wenn Raphaela nicht schnell genug ist, oder sie hilft ihr beim Ausziehen der dicken Winterkleidung. Auch pflegerische Tätigkeiten gehören zu ihrem Aufgabenbereich. Ihre Aufgabe erfülle sie, sagt die Schulbegleiterin: „Ich bin zufrieden. Ich spüre das ich gebraucht werde und freue mich über jeden schulischen Erfolg von Raphaela. „Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team“, freut sich Raphaela über die tägliche Unterstützung. Es sei schwierig, wenn die Betreuer häufiger wechselten. „Dann muss ich immer alles neu erklären“.

Wer Schulbegleiter werden darf, ist aktuell nicht eindeutig geregelt. Zwar sind Vorkenntnisse wünschenswert, in der Praxis findet die Qualifizierung aber häufig bei Trägern der Sozialen Arbeit statt. Dort werden die Bewerber auf ihren Einsatz vorbereitet. „Aktuell betreuen wir im Hochsauerlandkreis ungefähr 130 Schulbegleiter“, weiß die Sozialpädagogin Franziska Dröge, die bei der Lebenshilfe für die Schulbegleitung zuständig ist.

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Nicht jeder Raum kann erreicht werden

Ihr Werdegang ist beeindruckend: Ihren Hauptschulabschluss machte Raphaela noch auf einer Sonderschule. Wegen der guten und barrierefreien Ausstattung erinnert sich Raphaela heute noch gerne daran: „Das war Luxus pur“. Gemeinsam mit einem Mitschüler wechselte sie schließlich auf das Berufskolleg in Olsberg um nächstes Jahr ihr Abitur zu machen. In Olsberg ist sie die einzige Rollstuhlfahrerin. Dort kommen ihr die Unterrichtsstrukturen entgegen: „Wir bleiben in Olsberg im Klassenverbund, müssen also nur selten Räume wechseln“. Zwar gebe es in Olsberg auch Aufzüge, aber nicht jeder Raum ist für Raphaela leicht zu erreichen. Schon die Eingangstür zum Gebäude bereitet Probleme: „Da brauche ich Hilfe“, sagt sie. Als Leistungskurse hat sie Biologie und Ernährung gewählt, allerdings nicht ganz freiwillig: „Sport kam ja nicht in Frage“, scherzt sie.

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Zum Studium nach Dortmund

Von ihren Klassenkameraden fühle sie sich gut angenommen: „Auch wenn ich manchmal etwas schüchtern bin“. Gerade zum Anfang gebe es manchmal Berührungsängste, aber „ich habe mich in meinem ganzen Leben von meinen Mitschülern noch nie ausgeschlossen gefühlt.“ Nach dem Abitur möchte sie Lehrerin für Sonderpädagogik werden. Sie hat sich deswegen auch schon einmal die Universität in Dortmund angeschaut und ist begeistert: „Die Uni in Dortmund ist sehr weit, was Inklusion angeht“, kann sie berichten. Computer seien mit Spracherkennungssoftware ausgestattet. Außerdem ständen dort auch Berater bereit, die speziell für den Umgang mit körperlich eingeschränkten Menschen ausgebildet seien.

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Denn der Beratungsbedarf für Raphaela ist hoch und häufig sehr bürokratisch: „Manchmal bin ich schon etwas vom Papierkram überfordert“, gibt sie zu. Denn Raphaela kann nicht einfach mal eben so umziehen: „Ich brauche eine barrierefreie Wohnung und einen Betreuer, der rund um die Uhr für mich da ist“.

Das Berufskolleg in Olsberg ist zwar nicht vollständig barrierefrei, für Raphaela konnte aber eine Lösung gefunden werden.
Das Berufskolleg in Olsberg ist zwar nicht vollständig barrierefrei, für Raphaela konnte aber eine Lösung gefunden werden. © Berufskolleg Olsberg

ÖPNV bereitet häufig Schwierigkeiten

Und da ist noch das Problem mit der Mobilität: „Ich fahre eigentlich super gerne mit dem Bus und mit der Bahn“. In der Praxis sei das aber häufig schwierig, kann sie aus Erfahrung berichten: „Mal funktionieren die Aufzüge nicht, dann haben die Bahnsteige oft unterschiedliche Einstiegshöhen. In Bussen gibt es oft nur einen Platz, der entweder von Rollstuhlfahrern oder von Kinderwagen benutzt werden darf“. Das sei in der Großstadt kein Problem, auf dem Land habe sie deswegen aber auch schon mal eine Stunde auf den nächsten Bus warten müssen. Beim Zugfahren treffe sie häufig auf schlecht gelaunte Zugbegleiter, die ihr nur widerwillig helfen: „Ich habe mir deshalb eine kleine mobile Rampe gekauft, um die Stufen bei Einstieg zu überbrücken“, so ihre Strategie.

Eigentlich sollen sich hilfsbedürftige Menschen vorher bei der Bahn melden, wenn sie Zugfahren wollen, aber da spielt die selbstbewusste Frau nicht mit: „Ich habe auch das Recht, spontan mit der Bahn fahren zu wollen“, so ihr verständliches Anliegen.

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Besonders ärgerlich war der desolate Zustand des ÖPNV auf ihrer Klassenfahrt nach Hamburg: „Alle Aufzüge waren defekt“. Die Konsequenz: Raphaela durfte alle Wege getrennt von der Klasse mit dem Bus oder Taxi zurücklegen. Auch ihr angebliches barrierefreies Hotelzimmer war ein Reinfall: „Zwischen Bett und Wand war viel zu wenig Platz, um mit dem Rollstuhl vorbeizukommen“. Als wäre das alles noch nicht genug gewesen, wird ihr als einzige aus dem Klassenverband von der Bahn die Rückfahrkarte storniert. „Ich war auf 180“, erinnert sie sich. Eine Begründung der Bahn gab es nicht. Das ist kein Einzelfall.

Elektrische Hilfsmittel

Im Alltag hilft ihr neben dem elektrischen Rollstuhl auch ein Roboterarm bei der Bewältigung einfacher Aufgaben. Damit kann sie Gegenstände greifen oder auch mal ein Glas Wasser trinken. „Das ist eine große Erleichterung“, findet sie. Außerdem hat sie ihr Handy mit einem Magneten an der großen Hand des Roboters befestigt. Umso ärgerlicher, wenn dann mal was defekt ist: „Ich hatte vor kurzem einen Achsbruch und weil die Beschaffung der Ersatzteile so lange gedauert hatte, musste ich zwei Monate auf den Rollstuhl verzichten“. Das sei ein großer Verlust an Selbstständigkeit gewesen.

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Ein Medikament könnte die Krankheit aufhalten

Mittlerweile gebe es auch Medikamente, die den Fortschritt der Krankheit verlangsamen oder aufhalten können. Eines davon könne den Prozess bereits im Kindesalter stoppen. Seit sie das weiß, macht sich Raphaela auch Gedanken, wie ihr Leben anders hätte verlaufen können, wenn das Medikament schon vor 20 Jahren zur Verfügung gestanden hätte. „Dann hätte ich wie meine Geschwister aufwachsen können“, sagt sie etwas wehmütig. Wenn sie Sendungen im Fernsehen sieht, die über das Medikament berichten, muss sie ausschalten: „Das ist sehr emotional für mich“. Zwar kann ihr dieses Medikament nicht mehr helfen, trotzdem steht sie kurz davor ein anderes Medikament verschrieben zu bekommen: „Das Medikament kann nichts mehr rückgängig machen, aber den Verlauf meiner Krankheit aufhalten“, weiß sie. Dafür brauche sie noch die Zustimmung der Krankenkasse, denn das Medikament ist sehr teuer: „Das Ziel ist, dass sich die Krankheit nicht verschlimmert“, so Raphaela. Wenn alles gut laufe, sei sogar eine leichte Verbesserung möglich.

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Bis es so weit ist, wird es vielleicht noch etwas dauern, aber wenn Raphaela eines hat, dann ist es Geduld und Hoffnung. Die Hoffnung, dass sich schnell etwas ändert und Geduld, um so manche Situation zu ertragen, die vermeidbar gewesen wäre, wenn man Menschen wie sie schon früher in Planungen und Konzepten mitgedacht hätte. Sie sei aber grundsätzlich ein positiver Mensch, sagt sie lächelnd, bevor sie mit ihrem Rollstuhl gekonnt durch den schmalen Türrahmen auf den großen Flur der Schule manövriert.