Brilon. Wie erklärt man Kindern den Begriff Krieg? Wie geht man mit Angst vor Krieg um? Die Briloner Psychotherapeutin Dr. Elisabeth Weinrich gibt Tipps:

Jeden Tag neue Bilder des Krieges aus der Ukraine. Was macht das mit uns? Wie wirken diese Bilder z.B. auf Kinder? Wie erklärt man ihnen Krieg? Und wie kann jeder von uns mit seinen persönlichen Ängsten umgehen? „Nichts verdrängen, die psychische Widerstandskraft stärken und sich klar machen: Wie sicher ist es, dass meine Ängste tatsächlich Wirklichkeit werden“, rät Dr. Elisabeth Weinrich. Sie ist psychologische Psychotherapeutin und praktiziert sein 1996 in Brilon. „Eine mittlere Angst, in der sich viele von uns – auch die Politiker – jetzt befinden, kann sogar auch ihr Gutes haben. Sie sorgt dafür, dass Menschen reagieren und etwas tun.“

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Sich Angst bewusst machen

Krieg in Europa – allein diese Schlagzeile hat bei vielen unterschiedliche Ängste freigesetzt. Was kann man gegen diese Ängste tun? Es funktioniert ja nicht, einfach nicht mehr in die Nachrichten oder die Zeitungen zu schauen?

Als Erstes geht es darum, mir meine Angst bewusst zu machen. Was genau befürchte ich? Was ist das Schlimmste, das mir passieren könnte. Und ich muss mir klar machen: Wie realistisch ist es, dass der schlimmste Fall eintritt? Diese Frage muss ich mit Ja oder Nein beantworten. Wenn ich also verneine, dass zum Beispiel mein Hab und Gut auf dem Spiel steht oder eine Bombe mein Haus trift, dann stimmt die Angst davor nicht mit der Realität überein. Dann kann und muss ich diese Katastrophen-Phantasie beiseite schieben und „Nein!“ sagen.

Eigener Blog

Dr. Elisabeth Weinrich, Jahrgang 1958, ist seit 1996 selbstständige psychologische Psychotherapeutin in Brilon.

Auf ihrer Homepage www.dr-weinrich.de hat sie einen einen eigenen Blog, in dem sie über Krieg und Ängste schreibt.

Das setzt aber schon eine gefestigte Persönlichkeit voraus; und selbst die dürfte in diesen Tagen Selbstzweifel haben…

Daher ist es ganz wichtig, dass wir unsere Resilienz stärken – unsere psychische Widerstandskraft. Dazu muss ich versuchen, ruhig zu bleiben und die Kontrolle über meine eigenen Emotionen zu behalten. Ich muss bereit sein, Veränderungen anzunehmen und ich muss mir trotz harter Realität einen Optimismus bewahren. Das ist natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Jeder hat seine individuellen Katastrophen-Phantasien. Wir sollten aber in eine Haltung gehen, die es uns ermöglicht, zu handeln. Ich nenne diese Haltung Schöpfer- oder auch Täter-Haltung im positiven Sinn. Das Schlimmste, was uns Menschen passieren kann, sind nicht die verschiedenen Probleme, die immer wieder auf uns zukommen, sondern das Denken, dass ich einem Problem hilflos ausgeliefert bin. Ich möchte in meinem Leben der Pilot bleiben und nicht das Flugzeug sein.

 Eine Frau und ein Kind, die vor dem Krieg und dem russischen Angriff aus der Ukraine geflüchtet sind, kommen an der Grenze zur Ukraine mit einem Bus in der ungarischen Gemeinde Tiszabecs an einer Unterkunft für Flüchtende an.
Eine Frau und ein Kind, die vor dem Krieg und dem russischen Angriff aus der Ukraine geflüchtet sind, kommen an der Grenze zur Ukraine mit einem Bus in der ungarischen Gemeinde Tiszabecs an einer Unterkunft für Flüchtende an. © dpa | Marton Monus

Aktiv werden und handeln - das klingt plausibel. Aber ich kann ja Herrn Putin nicht in den Schwitzkasten nehmen? Was kann ich denn tun?

Da kommen jetzt wieder unterschiedliche Möglichkeiten in Frage: Die einen gehen auf die Straße und demonstrieren, die anderen spenden, die Nächsten nehmen Flüchtlinge auf, wieder andere beten. Die Menschen in der Ukraine kämpfen. Wir haben aber auch die Möglichkeit, über unser Denken zu handeln. Ich kann mich entscheiden, in Frieden zu leben, wohlwollend mit meinen Mitmenschen umzugehen, einem „Angreifer“ in meinem Umfeld friedlich und verzeihend zu begegnen. Ich kann mich entscheiden, die Veränderung zu sein, die ich mir in der Welt wünsche. „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für die Welt“, hat Mahatma Gandhi gesagt. Man stelle sich einmal vor, dass würden alle Menschen auf dieser Welt umsetzen.

Dr. Elisabeth Weinrich.
Dr. Elisabeth Weinrich. © wp | Ulrich Landgraf

Wie können Eltern oder Lehrkräfte ihren Kindern die Angst vor Krieg nehmen und ihnen Krieg erklären?

Das Wichtigste ist, Kinder ernst zu nehmen, sie nicht zu unterschätzen. Sie bekommen alles mit, sie spüren sofort Veränderungen und Ängste der Erwachsenen. Eltern sollten mit ihnen offen über alles sprechen, sie sollten die Kinder fragen, was sie belastet. In kindgerechter Art und Weise sollten sie die Probleme darstellen, möglichst konkret: Stell Dir vor, Du sitzt im Sandkasten, hast etwas Schönes gebaut, plötzlich platzt da jemand rein und macht alles kaputt: Wie geht es Dir damit? Was kann man denn jetzt machen? Man kann den Kindern durchaus den Ernst der Problematik vermitteln, ihnen aber zeitgleich auch sagen: Wir schaffen das. Man sollte keine theoretischen, abstrakten Horrorszenarien vor den Kindern debattieren und auf Medien achten: Ich würde den Fernseher nicht einfach laufen lassen, mit all den Schreckensbildern. Eltern sollten darauf achten, dass gewohnte Strukturen weiter bestehen bleiben, Rituale durchgeführt werden. Das gibt Sicherheit. Man sollte sein Kind beobachten und reagieren, wenn es sich mit Fragen an uns wendet und nicht dem Kind etwas überstülpen, von dem ich meine, dass es besprochen werden muss. Und eines ist ganz wichtig: Ein Modell für das Kind sein: so geht man mit Problemen um. Mit etwas Schwierigem konfrontiert zu sein und dabei in der Haltung zu bleiben, zuversichtlich und aktiv nach Lösungen zu suchen. Auch das gibt dem Kind Sicherheit und stärkt es. Darauf achten, dass das Kind nicht zu empathisch wird und glaubt, mitleiden zu müssen, nicht mehr lachen oder sich nicht mehr wohlfühlen zu dürfen.

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Macht es Sinn, mit anderen (psychologische Laien) über seine Ängste zu sprechen?

Ja, das macht Sinn. Der Sinn des „Mit-Teilens“ wird hier deutlich. Eine Last wird geteilt, ich verbinde mich mit anderen, um eine Last besser zu ertragen und gemeinsam zu überlegen, was man tun kann. Das wird ja auch automatisch in vielen verschiedenen Krisensituationen angewandt - zum Beispiel, wenn jemand gestorben oder von schwerer Krankheit betroffen ist. Familie, Freunde, Verwandte kommen zusammen und erleben dadurch Entlastung. Wir Menschen sind soziale Wesen, unser Überleben war und ist abhängig von der Gruppe. Deswegen hat uns die Pandemie auch so getroffen. Unseren Reflex, sich mit anderen zu verbinden, konnten wir nicht mehr leben. Wir wurden zur Isolation gezwungen, was sehr viel Leid bewirkt hat. Allerdings sollten wir beim Reden über die Problematik darauf achten, dass wir nicht in die Opferhaltung geraten. Das würde dazu führen, dass wir gemeinschaftlich in noch mehr Leid und Untergangsstimmung geraten. So wie uns eine Gruppe stärken kann, kann uns eine Gruppe auch herunterziehen, wenn man zu viel und zu lange jammert. Das ist dann wie schleichendes Gift.

Potenzial, um Konflikt zu bewältigen

Beschäftigt uns der Konflikt in der Ukraine – auch bedingt durch Corona – jetzt mehr oder anders als sonst. Oder anders gefragt: Ist unser Konflikt-Bewältigungspotenzial momentan ohnehin erschöpft/erschöpfter als sonst?

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Das von Ihnen beschriebene Potenzial sollte man sich nicht als Vorrat vorstellen, sondern als einen Muskel: Wenn wir in corona-Zeiten tastsächlich ein Bewältigungspotenzial aufgebaut (antrainiert) haben, gehen wir auch jetzt eher gestärkt in diese Krise. Das heißt: Wenn jemand aktiv, proaktiv mit dem Bewusstsein „Ich kann Krisen meistern!“ durch sein Leben geht, dann löst er sowohl die Corona-Problematik als auch diese Bedrohungssituation mit Stärke, Mut und Zuversicht. Glaubt er eher: „Ich bin schwach hilflos, ohnmächtig“, wird er sowohl Corona als auch diese Situation nur sehr schwer überstehen. Aber man kann das lernen: das ist wie Muskelaufbau-Training. Man muss es ja nicht bis zum Bodybuilder schaffen, es reicht, wenn man start genug ist, um zufrieden durchs Leben zu gehen. Jeder kann das übrigens lernen – manche erst, wenn der Leidensdruck erdrückend groß ist.

Angst ist ja an sich nichts Schlechtes – sie will uns schützen. Aber ab wann wird diese Angst schädlich für mich und ab wann macht es Sinn, sich professionelle Hilfe zu holen?

Angst wird schädlich, wenn sie zu intensiv ist. Das führt mich in eine Blockade. Ich kann nicht mehr richtig denken, Blackout, Kampf-, Flucht-, Schockreaktion. Ich denke anders, sehe nicht mehr das Große und Ganze, bleibe bei gewohnten einfachen Abläufen. Damit bleibe ich in der Angst, kann keine Lösungen für mich entwickeln und gerate in Teufelskreise. Professionelle Hilfe sollte ich dann suchen, wenn die Angst in meinem Leben überhand nimmt. Wenn ich nur noch daran denke, wenn Schlafstörungen auftauchen, wenn ich mich immer mehr zurückziehe, wenn Interessens- und Lustlosigkeit zunehmen. Angst ist in der momentanen Situation wichtig, um wach zu werden. Diese mittlere Angst, in der wir uns jetzt befinden, bringt uns in Bewegung. Das gilt für die Ukraine-Krise, das gilt aber auch für den Klimaschutz und das Artensterben. Damit sich etwas bewegt, brauchen wir ein mittleres Maß an Angst. Ich glaube, das passiert gerade. Wird die Angst aber übermächtig groß, dann blockiert sie uns.

Empathie heißt nicht, sich auch schlecht fühlen müssen

Wenn man Bilder von Krieg und Zerstörung nicht mehr sehen kann, ist es dann hilfreich, sich ganz bewusst auch einmal abzulenken? Viele Fernsehsender stellen ihr Programm um, weil Ihnen einfache Unterhaltung angesichts des schweren Leides anderer Menschen nicht angemessen erscheint. Ist das eine gute Lösung?

Man sollte sich Bilder von Krieg und Zerstörung so wenig wie möglich ansehen, denn sie haben eine viel intensivere Wirkung als Worte. Meiner Meinung nach sollte man Nachrichten auf ein Minimum beschränken und gerade Kinder vor diesen Bildern schützen. Es hilft, sich mit angenehmen und wohltuenden Dingen zu beschäftigen. Und das darf man auch. Gerade in der Krisensituation sollte man sich Dinge erlauben, die einem wohltun, weil sie Kraft geben und stärken. Ich höre vielfach: Nein, ich darf nicht lachen, mich nicht amüsieren, wenn es anderen schlecht geht. Ich sage immer: Gerade dann! Was nützt es dem anderen, wenn ich zusammen mit ihm untergehe? Ihm nützt es etwas, wenn ich in der Stärke bin und bleibe, nur daraus kann ich helfen. Und auch mir selber nutzt es, weil ich aus der Stärke ganz anders auf Angriffe reagieren kann, als wenn ich vorher schon schwach am Boden liege. Empathisch sein heißt nicht, dass ich mich genauso schlecht wie der andere fühlen muss.

Bei jüngeren Menschen ist die Angst vor Krieg ja eher diffus – sie haben noch keinen Krieg erlebt. Aber wie ist das mit älteren Menschen, die noch Kriegserfahrungen haben?

Damit sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs: Nur weil ältere Menschen den Krieg schon einmal erlebt haben, ist es ja nicht wahrscheinlich, dass es jetzt genauso wieder passiert. Sie sollten sich bewusst machen, dass dieser Gedanke in ihrem Kopf ein „Nein!“ verdient und für diesen Moment nicht gilt. Alles andere sollte mich erst dann beschäftigen, wenn es zu meiner Realität geworden ist. Bei älteren Menschen ist es verständlich, dass Bilder von Kriegserlebnisse hoch kommen können. Auch da kommt es auf die psychsiche Widerstandkraft an – ob sie dadurch retraumatisiert werden oder sagen: Ich habe es damals geschafft, ich schaffe es jetzt auch.

Hilft Beten?

Ich habe gesehen, dass sie eine Kette mit einem Schutzengel um den Hals tragen. Hilft beten in der Not?

Ja, wenn ich der Meinung bin, dass es etwas Größeres um ich herum gibt, als das Materielle, dann wende ich mich daran, weil ich dadurch größere Kraft bekomme. Dass Beten zum Beispiel auch bei der Heilung von Krankheiten helfen kann, ist wissenschaftlich erwiesen. Beten ist ja eigentlich in erster Linie eine Dankbarkeitsäußerung. Und Beten hilft vor allem in der Gemeinschaft, weil ich mich letztlich auf das Positive fokussiere.