Brilon. „Reg Dich nicht so auf!“, heißt ein Buch, das wir alle gebrauchen könnten. Geschrieben hat es Psychotherapeutin Dr. Elisabeth Weinrich aus Brilon.

„Reg Dich nicht so auf!“ Das sollte eigentlich unser aller täglicher Wahlspruch sein. Zugleich ist das aber auch der Titel eines Buches, das eine Frau geschrieben hat, die sich beruflich mit den Folgen der Missachtung dieses mehr als gut gemeinten Ratschlags beschäftigt. Dr. Eilsabeth Weinrich ist psychologische Psychotherapeutin und praktiziert sein 1996 in Brilon. Weil viele ihrer Patientinnen und Patienten immer wieder den Wunsch geäußert haben, die vielen Tipps zu mehr Ruhe und Gelassenheit im Alltag nachlesen zu können, hat sie diesen Ratgeber verfasst. Gut verständlich wird hier beschrieben, wie wichtig es für Körper, Geist und Seele ist, sich nicht zu ärgern. Außerdem gibt sie Hilfestellungen, wie es uns gelingt, uns von Ärger zu befreien und nicht gefrustet zu sein, wenn Pläne und Wünsche einmal nicht aufgehen.

Die Antwort heißt „Vergebung“

Frage: Das Einmaleins des Sich-nicht-Aufregen-Müssens: Eigentlich müsste doch die Welt auf so etwas gewartet haben. Ja, das Buch müsste sogar verschreibungspflichtig sein. Warum regen wir uns eigentlich so oft auf?

Dr. Elisabeth Weinrich: (lacht) Das wäre eine gute Idee. Wir werden das vom Marketing her überlegen. Dass wir uns aufregen, ist ein natürlicher und normaler Reflex. In dem Moment, wo im Außen etwas Unerwartetes geschieht, was mich enttäuscht oder erregt, gehe ich in eine Ärger-Reaktion. Das wird auch nach dem Lesen meines Buches weiterhin so sein. Das muss auch so sein, denn ich muss merken: im Außen stimmt etwas nicht. Dann kann ich aber schauen, wie gehe ich mit dieser Enttäuschung oder diesem unerwarteten Außenreiz innerlich um. Im Ärger stecken zu bleiben, bedeutet, ich werde körperlich oder geistig krank. Deswegen: Ärgern ist o.k., ich kann ihn annehmen, muss schauen, was da los ist. Aber dann muss ich so schnell wie möglich in den Modus ,Vergebung‘ umschalten, damit ich wieder in meine Ruhe und Gelassenheit komme.

Bitte vervollständigen Sie folgende Sätze

Um zu entspannen, gehe ich in den Wald oder esse Schokolade.

Meine Freunde sagen von mir, dass man mit mir über Gott und die Welt reden und dabei herrlich entspannen kann.

Meine Patienten schätzen an mir, dass ich empathisch, wertschätzend und sehr direkt sein kann.

Ich glaube an die Vergebung, weil wir gar keine andere Wahl haben, wenn wir uns verändern und die Welt retten wollen.

Wenn ein Patient nicht die Wahrheit sagt, biete ich ihm an herauszufinden, warum er sich selbst und anderen gegenüber nicht ehrlich sein kann.

Sie schreiben, dass es für Körper, Geist und Seele wichtig ist, sich nicht aufzuregen. Was passiert denn eigentlich dabei in unserem Körper?

Nehmen wir mal das Beispiel des letzte Woche verhängten Ruhetages wegen Corona: Die erste Reaktion bei mir: Ich bewerte das, gehe nach innen und erzähle mir die Geschichte, dass ich da nicht arbeiten darf. Und wenn ich diese Episode bewerte, sie als Unsinn betrachte und jemandem die Schuld gebe, dass ich an diesem Tag alle Termine absagen muss, dann springen bestimmte neuronale Prozesse an. Diese Bewertungsgeschichte geht in die sogenannte Amygdala, das ist ein Zentrum in meinem Gehirn, das die hereinkommenden Reize ausschließlich daraufhin bewertet, ob sie bedrohlich oder nicht bedrohlich sind. Sind sie gefährlich, dann springt mein Stammhirn an. Und das sorgt dafür, dass ich in eine Flucht- oder Kampf-Reaktion gerate. Und dann wird mein Körper darauf vorbereitet: der Blutdruck und die Herzfrequenz steigen, mein Muskeltonus spannt sich an, die Atmung verändert sich, mein Magen-Darm-Trakt reagiert. In diesem Kampf-Flucht-Zustand bin ich gleichzeitig ohnmächtig, weil ich – im konkreten Fall – ja nicht nach Berlin fahre, um dort meinen Unmut kund zu tun.

 „Reg Dich nicht so auf!“, heißt das Buch, das die Briloner Psychotherapeutin Dr. Elisabeth Weinrich geschrieben hat. 
 „Reg Dich nicht so auf!“, heißt das Buch, das die Briloner Psychotherapeutin Dr. Elisabeth Weinrich geschrieben hat.  © wp | Ulrich Landgraf

Was bedeutet das denn dann für mich und meinen Körper?

Das bedeutet, ich kann die Situation nicht ändern, bleibe in diesem hochgradigen Stresszustand, auch wenn ich vielleicht bewusst gar nicht mehr daran denke. Wenn ich dann nicht in die Ruhe komme und ich mich längere Zeit ärgere, kann ich Herzrhythmusstörungen, eine Magenschleimhautentzündung oder andere chronische Erkrankungen bekommen. Ich reagiere nur noch aus dem Stammhirn und da sind nur noch Reflexe und Instinkte tätig. Ich bräuchte mein Frontalgehirn, um mich zu beruhigen und um die Situation sachlich zu beurteilen. Das ist aber ausgeschaltet, wenn das Stammhirn die Steuerung übernimmt.

Jetzt wird es aber spannend. Was hilft mir denn dann aus diesem Dilemma herauszukommen?

Sie müssen in die Vergebung gehen. Also im konkreten Fall: Ich habe den Politikern sofort vergeben, weil ich weiß: Sie können nicht besser, sie geben ihr Bestes. Dann signalisiert nämlich Amygdala, dass wieder alles in Ordnung ist, dass keine Kampfsituation besteht und ich kann das Stammhirn stoppen und wieder in die Ruhe gehen. Dann, wenn das Frontalgehirn wieder läuft, kann ich auch wieder klar überlegen, was mache ich jetzt.

Schon der Höhlenmensch kannte das

Ist „Sich Aufregen“ eigentlich ein Phänomen der Neuzeit? Unsere Vorfahren konnten sich ja letztlich nur ärgern, wenn sie in der Höhle das Feuer nicht entfachen oder das Mammut nicht erlegen konnten…

Das Sich-Aufregen ist in uns angelegt. Das brauchen wir als erste Reaktion, um zu bemerken: Im Außen stimmt etwas nicht, da passiert etwas, das nicht zu meinem Plan passt. Die Neandertaler hatten vielleicht nicht so viel Zeit wie wir, um in einem Jammerzustand zu verharren. Wenn die sich hingesetzt und drei Wochen geärgert hätten, dann wären sie schlicht verhungert. Die mussten schnell etwas tun, haben ihre Instinkte aktiviert und gesagt: Wir kämpfen jetzt. Damit waren sie handlungsfähig, haben das Mammut erlegt und konnten in die Ruhe kommen. Wir kommen aber heute nicht in die Ruhe, weil wir uns im Außen nicht abreagieren können oder wollen. Deswegen bleiben wir zu lange in der Stress-Reaktion. Das bricht uns das Genick.

Steckbrief

Dr. Elisabeth Weinrich, Jahrgang 1958, Psychologiestudium in Münster (1978 – 1983), promovierte an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum und ist seit 1996 als selbstständige psychologische Psychotherapeutin in Brilon niedergelassen.

Vielfältige Aus- und Weiterbildungen ermöglichen es ihr heute, ihren Klienten ein breit gefächertes Angebot an Therapietechniken und Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um angemessen auf unterschiedliche Problematiken und Fragestellungen einzugehen. Neben klassischen Techniken wie Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie kommen auch Verfahren wie Hypnose, Neurolinguistisches Programmieren oder Provokative Therapie zur Anwendung.

Ihre Hobbys sind Joggen, Yoga und Wandern.

Regen wir uns zu viel auf? Ist Sich-Aufregen nicht sogar „in?

Ja, vielleicht gibt es eine solche Tendenz, denn es tut ja auch gut, sich gemeinsam mit anderen über etwas aufzuregen. Hat man gemeinsame Aufreger, fühlt man sich z. B. mit seinem Kollegen verbunden und das tut auch wieder gut. Wenn ich allein im Jammern verharre, finde ich keine konstruktiven Lösungen – weder für mich, noch für andere. Im Gespräch mit Kollegen neigt man aber auch schnell dazu, sich in etwas hinein zu steigern. Einfach mal rumlästern kann in Maßen noch Psycho-Hygiene sein.

Das Frontalhirn ausknipsen

Gibt es denn keinen Schalter, um dieses Frontalgehirn an- oder auszuknipsen?

Doch, der Schalter heißt Vergebung. Weil ich dann dem Gehirn signalisiere, ich bin jetzt in keiner Bedrohung mehr. Erst dann komme ich in die Ruhe rein. Das ist nicht einfach, das muss man üben. Wenn man bis ins Mark getroffen ist, braucht das sicherlich seine Zeit. Dann kann ich auch nicht mein Buch zur Hand nehmen, meine Übungen machen und sagen: Ab morgen sind wir uns alle wieder grün. Man muss ja nicht jeden Vorfall komplett vergessen. Aber Sie sollten prüfen, ob Sie noch emotional blockiert sind, denn dann schaden Sie sich selbst. Das Dumme ist ja, wenn Sie sich über jemanden ärgern, geben Sie viel zu viel Macht und Verantwortung über sich an Ihr Gegenüber ab. Der andere ist schuld daran, dass es Ihnen so geht. Hätte er etwas anderes gemacht, würde es Ihnen besser gehen. Das heißt, der andere bestimmt, wie sie sich fühlen. Das würde ich mir nie durchgehen lassen.

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Vom Prinzip kann ich Ihnen folgen, aber ich stelle mir das in der Praxis sehr schwierig vor…

Das mag sein. Aber wenn Sie das nicht befolgen, schauen Sie sich den Preis dafür an, den Sie langfristig bezahlen – nämlich Krankheit. Gerade jetzt in der Coronazeit, wo wir alle sehr gefordert sind, Lösungsmöglichkeiten für die unterschiedlichsten Situationen zu entwerfen. Sie werden sie ohne Vergebung nicht finden. Und darüber wollen Sie sich aufregen? Der Preis ist viel zu hoch. Wenn man erstmal gefühlt hat, wie gut es sich anfühlt, dem anderen zu vergeben und wie gut es mir selber tut, dann klappt das fast von allein.

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Wem kann ich denn in Sachen Corona vergeben? Ich kann doch niemandem konkret die Schuld dafür geben, dass wir diese Pandemie zurzeit haben?

Manchmal muss ich dem Staat, der Politik, der Partei vergeben. Das kommt darauf an, worüber Sie sich ärgern. Es gibt viele, die darüber schimpfen, dass die da oben etwas mit mir machen und mich fremd bestimmen. Darüber darf ich mich nicht aufregen. Ich muss mir meine Macht wieder zurückholen und mir sagen: die tun ihr Bestes.

Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

Von meinen Patienten bin ich immer wieder angesprochen worden. Wo kann ich denn Ihre Ratschläge noch einmal nachlesen. Und wo gibt es denn die Anleitungen gegen das Sich-Ärgern. Irgendwann habe ich dann gesagt, ich setze mich hin und schreibe es auf. Und dann hat sich schnell gezeigt, dass Ärger einfach ein total wichtiges Thema ist. Denn wenn ich nicht den Ärger zuerst bearbeite, komme ich in der Therapie gar nicht erst an die darunter liegenden Schichten wie zum Beispiel tiefsitzende Ängste. Ich habe beim Schreiben bemerkt, die Anleitungen kann jeder nutzen, der in Sackgassen gerät und auf immer wiederkehrende Probleme stößt. Das Buch ist sehr wenig theoretisch geschrieben, stattdessen gibt es mehr Beispiele und praktische Anleitungen.

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Aufreger können tiefere Gründe haben

Was sind denn aus Ihrem Erfahrungsschatz mit Ihren Patienten die häufigsten Aufreger?

Oft sind objektiv betrachtete Aufreger in Wirklichkeit Kleinigkeiten. Sie sind nur die Aufhänger. Wenn man diese dann aber näher betrachtet, dann ist man ganz schnell bei traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit, bei Missbrauch oder Vernachlässigung. Auch Überbehütung kann fast schon ein Trauma sein. Da kommen wir ganz schnell an tiefgreifende Verletzungen. Wenn zum Beispiel bei einem Missbrauch das Opfer bereit ist, dem Täter zu vergeben, dann ist das ein zentraler Moment. Da kriege ich jedes Mal eine Gänsehaut, wie gut sich der Patient fühlt, wenn er endlich wieder in der Position ist: Ich bin nicht Opfer, sondern ich bin wieder zum Gestalter meines Lebens geworden, der andere hat keine Macht mehr über mich. Verstehen Sie mich nicht falsch. Vergebung heißt ja nicht, die Tat zu entschuldigen. Es ist und bleibt nicht in Ordnung, was da geschehen ist. Aber, ich gebe dem Täter sein Problem zurück, damit es dahin kommt, wo es hingehört und ich mich davon befreien kann.

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Heißt das denn auch, dass jemand, der sich viel ärgert, unterschwellige Traumata mit sich herumträgt?

Es gibt schon sehr viele Verhaltensmuster, die auf irgendein Ereignis in der Kindheit schließen lassen. Wenn z.B. ein Kind idealerweise mit viel Beachtung, Respekt und Wertschätzung groß geworden ist, dann denkt es eher: Ich bin in Ordnung, die Welt ist in Ordnung, meine Bedürfnisse werden befriedigt. Und wenn das Kind dann später mal kein Eis bekommt, dann ist es ihm egal. Anders sieht es aus, wenn ein Kind vielleicht schon in der Schwangerschaft von der Mutter abgelehnt wurde, dann entwickeln sich bei ihm ganz andere Muster: Ich bin nicht in Ordnung, die Welt da draußen ist gefährlich, meine Bedürfnisse werden nicht befriedigt, ich muss kämpfen. Wenn dieses Kind kein Eis bekommt, dann schlägt das sofort in Ärger, Wut oder Angst um. Ich muss schauen, was die typischen Bewertungsmuster eines Menschen sind. Denn sie bestimmen, ob ich mich aufrege oder nicht.

Patentrezept für den Alltag

Gibt es ein Patentrezept, das ich im Alltag aus dem Ärmel zaubern kann, um meinen Ärger loszuwerden?

Nochmals: Das Schlüsselwort heißt Vergebung. Alles andere ist schwierig, weil man Gefahr läuft, in einen Verdrängungsmechanismus zu kommen. Wenn ich mich immer in einer Ärger-Situation ablenke und den Ärger verdränge, dann bin ich das Problem zwar kurzfristig los. Aber dann habe ich einen Topf mit einem Deckel, in den viele Sachen reinkommen und der Deckel derart unter Druck steht, dass er mir irgendwann um die Ohren fliegt. Annehmen, was ist. Akzeptieren, dass man sich ärgern darf – das ist ok. Ich habe so eine Formel. Wenn ich angespannt oder ärgerlich bin, liebe und akzeptiere ich mich von ganzem Herzen. Und wenn mich jemand verletzt hat, sage ich mir: Der kann gerade nicht anders, das hat mit mir nichts zu tun.

Darf ich denn auch mal - wenn ich merke, dass mich jemand unangemessen angeht – zurückschießen und mich wehren? Oder anders gefragt: Bevor ich den Ärger in mich hineinfresse, lasse ich ihn jetzt mal raus?

Also, zurückschießen würde ich nicht, weil dann wieder zurückgeschossen wird und es gibt einen unendlichen Teufelskreis. Aber wenn sie ihm vergeben würden, dürften sie ihm auch in ruhigem Ton eine Grenze setzen und sagen, dass er eine Grenze überschritten hat. Ich würde aber nicht schießen. Dann sind sie im Aggressionsmodus und der löst automatisch bei dem anderen auch wieder Aggressionen aus. Vergeben heißt ja nicht, ich lasse jetzt alles mit mir machen.

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Eigentlich gehörten solche Gedanken wie psychische Gesundheit und Vergebung doch in jeden Schulunterricht…

Ja, das sage ich schon seit Jahren. Ich habe auch schon mal gedacht, ich müsste in die Schulen gehen. Denn das verstehen Kinder auch sofort, damit könnte man im ersten Schuljahr beginnen. Das sind ja einfache Lebensgesetze, wenn ich die kenne und befolge, dann könnten wir dem „Paradies“ deutlich näher kommen.

Gibt es etwas, das Sie besonders aufregt.

Ja, Dummheit regt mich auf. Dummheit heißt, wenn jemand immer wieder das Gleiche tut und aus seinen Fehlern nicht lernen will. Da muss ich aufpassen, dass ich vergebe und sage: Ja, ich habe auch schon Fehler gemacht, das ist menschlich und jetzt schaue ich, dass es mich nicht weiterbelastet. Das sind sehr große Ziele, aber nur so kommt man in die neuen Muster und in die Veränderung.

„Reg Dich nicht so auf“ist im Buchverlag Andrea Stangl in Paderborn erschienen (www.buchverlag-stangl.dePaperback) Es hat 148 Seiten, kostet 12,90 Euro und hat folgende ISBN 978-3-934969-94-