Brilon/Kiew. Krieg, Russland und unsere Zukunft: Dirk Wiese aus Brilon ist SPD-Fraktionsvize und Ex Russland-Beauftragter der Regierung. So sieht er die Lage:

Menschen sterben im Kugelhagel. Bomben fallen. Ganze Städte in der Ukraine liegen in Schutt und Asche. Mütter sind mit ihren Kindern auf der Flucht. Russland - oder genauer: Wladimir Putin - macht seit einer Woche Ernst in der Ukraine. Und offenbar haben sich alle vom Kriegstreiber Putin blenden lassen: „Er bringt fürchterliches Leid über die Menschen in der Ukraine. Wir alle haben die Kaltblütigkeit und die imperialistischen und revisionistischen Großmachtgedanken Putins unterschätzt“, sagt der heimische Bundestagsabgeordnete und SPD-Fraktions-Vize Dirk Wiese aus Brilon. Der 38-Jährige war von April 2018 bis August 2020 Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft. Er macht deutlich: Nicht das russische Volk habe einen Krieg angezettelt, sondern Putin.

Ziel ist und war es, Brücken zu schlagen

Können Sie zu Anfang einmal ganz kurz erklären, welche Aufgaben Sie als Koordinator hatten?

Dirk Wiese: Deutschland unterhält mit Russland, den fünf zentralasiatischen Republiken, mit der Ukraine, den drei südkaukasischen Republiken und mit Moldau und Belarus intensive Beziehungen. Die Aufgabe des Koordinators war und ist es gerade in politisch herausfordernden Zeiten, Brücken insbesondere zu den Bürgerinnen und Bürgern dieser Länder zu bauen und zu festigen. Dazu hält man intensive Kontakte zu den Vertretern von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und insbesondere der Zivilgesellschaft in den zwölf Ländern.

Lesen Sie auch: Firmenchef aus Brilon: Jeder Deutsche kann Putin bekämpfen

Was macht dieser Krieg mit den künftigen zwischengesellschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland? Kann man das Kriegsgeschehen überhaupt davon trennen?

Um es sehr deutlich zu sagen: Das ist Putins Krieg! Dieser Angriffskrieg gegen die Ukraine ist völkerrechtswidrig, eine Schande und in keiner historischen Weise zu rechtfertigen. Putin bringt fürchterliches Leid über die Menschen in der Ukraine. Ihnen gilt unsere uneingeschränkte Solidarität. Ihnen und den mutigen Russinnen und Russen, die in diesen Stunden aufbegehren gegen ein autoritäres und despotisches Regime. Ihnen, die in Kenntnis von Polizeigewalt und Repressalien in Russland für den Frieden auf die Straßen gehen. Denn Putin ist nicht Russland.

Wie ist Ihre Einschätzung: Sind die Bürger in Russland ausreichend unabhängig informiert, um die Lage einschätzen zu können? In Deutschland hört man an vielen Stellen seitens russischer Bürger Sympathie oder zumindest Verständnis für die Aktionen Putins…

Es gibt in Russland kaum noch unabhängige Medien. Gerade erst wurde Ekho Moskvy verboten. Eine der letzten freien Stimmen. Viele Bürger sind schon lange einer fortwährenden Propaganda in Bezug auf die Ukraine und den Westen ausgesetzt. Auch hier bei uns in Deutschland über Russia Today und Sputnik News. Dies sind keine unabhängigen Nachrichtenkanäle. Beide tauchen nicht umsonst im Verfassungsschutzbericht auf.

 Menschen haben sich in die Kiewer U-Bahn geflüchtet, die sie als Luftschutzbunker nutzen.
Menschen haben sich in die Kiewer U-Bahn geflüchtet, die sie als Luftschutzbunker nutzen. © dpa | Efrem Lukatsky

Haben Sie noch direkte, persönliche Beziehungen nach Russland – und wie ist die Stimmungslage dort?

Sehr unterschiedlich. Es gibt gerade bei den älteren Russinnen und Russen mangels neutraler Informationen eine Zustimmung zum Vorgehen. Doch die Kritik wächst täglich, insbesondere bei der jungen Bevölkerung. Gerade in den großen Metropolen. Doch Russland ist groß. Auf dem Land stehen einfach keine unabhängigen Informationen über den Krieg zur Verfügung. Aber: Immer mehr junge russische Soldaten, teilweise erst 18 oder 19 Jahre alt, kommen in Zinksärgen nach Hause zurück und ihre Eltern fangen jetzt an, Fragen zu stellen.

Lesen Sie auch:Medebach richtet Flüchtlingsstationen für Ukrainer ein

Haben Sie einen direkten Draht in die Ukraine – und wie ist die Lage dort?

Es ist Kriegsgebiet. Vor drei Wochen hatte ich noch mit Bekannten telefoniert, die sich diese Dimension des russischen Angriffskrieges nicht hatten vorstellen können. Auch ich nicht. Doch die Zeichen waren da. Die Truppen standen bereit. Warum haben wir uns trotzdem geirrt? Und das obwohl Putin bereits 2014 völkerrechtswidrig die Krim annektiert hat und faktisch schon die Kontrolle über die besetzten Gebiete in der Ostukraine in der Hand hielt. Weil wir nach meiner Einschätzung unsere Analyse zu sehr auf die vermeintliche Rationalität der Akteure gestützt haben und wir die Kaltblütigkeit und die imperialistischen und revisionistischen Großmachtgedanken Putins unterschätzt habe. Weil wir es vielleicht auch nicht wahrhaben wollten, dass so etwas in Europa wieder möglich ist.

Dirk Wiese bei der Jugendveranstaltung „MeetUp“ vor einigen Jahren in Kiew.
Dirk Wiese bei der Jugendveranstaltung „MeetUp“ vor einigen Jahren in Kiew. © WP | privat

Was wird nach dem Krieg?

Momentan schauen wir alle nur auf den Krieg – aber hoffentlich wird es bald ein „Danach“ geben: Bringt der Krieg die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland dann wieder auf den Nullpunkt?

Es wird sehr schwer werden, was auch von der weiteren innenpolitischen Entwicklung in Russland abhängen wird. Aber der Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern wird nicht bei Null beginnen. Wir haben Städtepartnerschaften, Jugendaustausch, Kooperationen im Bereich der Wissenschaft. Aber all das wird sich neu finden müssen. Wir erleben eine Zeitenwende mit diesem Angriffskrieg von Putin.

Wenn der Krieg denn dann irgendwann einmal vorbei sein sollte, wird man sich auch mit Russland wieder an einen Tisch setzen müssen. Wie ist das überhaupt vorstellbar?

Mir würde es aktuell völlig ausreichen, wenn Russland sich konstruktiv an irgendeinen Tisch setzte, damit dieser Krieg ein Ende hat. Russland geht mit einer unglaublichen Brutalität gegen die Ukraine vor. Wir dürfen uns nichts vormachen. Die nächsten Tage werden noch sehr dramatisch werden, denn die Ukraine kämpft buchstäblich ums Überleben. Unsere Aufgabe ist es zu verhindern, dass es so weitergeht wie bisher.

Kann man mit Putin an einem Tisch sitzen?

Kann und wird an so einem Tisch auch ein Herr Putin sitzen?

Solange es in Russland innenpolitisch keine Veränderungen gibt, wird Wladimir Putin mit am Tisch sitzen. Er hält aktuell noch alle Fäden in der Hand.

Haben Sie Putin im Rahmen ihrer Russland-Deutschland-Koordinatoren-Aufgabe einmal persönlich kennengelernt? Hat man den Mann unterschätzt?

Persönlich habe ich ihn nicht kennengelernt. Und ja! Wir haben seine Kaltblütigkeit unterschätzt, obwohl er diese im Sommer bereits in einem langen Beitrag zu Papier gebracht hatte.

Müssen wir in Deutschland eigentlich Angst davor haben, dass der Krieg unmittelbar an unserer Haustür anklopfen wird?

Die Unsicherheit bei vielen Bürgerinnen und Bürgern ist groß. Stand heute würde ich dies aber verneinen. Aber uns muss klar sein: Wir sind in diesem Konflikt nicht neutral und können es auch nicht sein. Die aktuelle Haltung von EU und NATO ist klar und unmissverständlich. Die NATO wird nicht eingreifen, aber unterstützen. Zudem zeigen die Sanktionen erheblich Wirkung. Daneben werden wir insbesondere Kriegsflüchtlinge bei uns aufnehmen. Vielleicht noch ein Hinweis dazu: Viele Bürgerinnen und Bürger wollen helfen, an vielen Stellen wird bereits gesammelt. Wichtig ist der enge Austausch mit den großen Hilfsorganisationen. Sie wissen am Besten, was am dringendsten gebraucht wird. Aktuell werden zum Beispiel vor Ort keine Sachspenden benötigt. Das Deutsche Rote Kreuz oder die Malteser koordinieren entsprechende Hilfslieferungen. Alleine Hilfslieferungen zur Grenze zu bringen ist daher nicht zu empfehlen.

Der Bundestagsabgeordnete und SPD-Vize der Bundestagsfraktion Dirk Wiese aus Brilon war über zwei Jahre Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.
Der Bundestagsabgeordnete und SPD-Vize der Bundestagsfraktion Dirk Wiese aus Brilon war über zwei Jahre Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft. © www.marco-urban.de | Marco Urban

Von Soldaten, die im Zinksarg nach Hause kommen

Was sind Ihre größten Sorgen im Zusammenhang mit diesem Krieg?

Meine Gedanken sind bei den Bürgerinnen und Bürger in den Luftschutzkellern. Bei den Kindern, die von heute auf morgen im Krieg aufwachsen. Bei den Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem russischen Angriffskrieg aus ihrem Heimatland fliehen müssen. Bei Kindern, die sich unter Tränen von ihren Vätern verabschiedet haben. Bei den Frauen, die ihren Mann vielleicht zum letzten Mal in die Arme genommen haben. Aber auch bei den jungen russischen Soldaten, die von Putin buchstäblich verheizt werden und im Zinksarg nach Hause kommen.