Altkreis Brilon. Ihre Geschichten richten andere Menschen auf: Mehr als ein Jahr später sprechen einige Mutmacher aus dem Altkreis wieder mit der Redaktion.

Es sind Menschen, die an ihren Erfahrungen gewachsen sind - auch wenn sie mitunter noch so erdrückend waren. Es sind Menschen, die niemals aufgeben. Die anderen Mut machen, weil sie Wege gefunden haben, um negative Erfahrungen ins Positive umzuwandeln. Solche Menschen haben wir vor über einem Jahr in unserer Serie „Mutmacher“ vorgestellt. Die Serie hat bei einem der größten europäischen Zeitungs-Wettbewerbe einen Preis gewonnen. Das macht uns stolz, hat uns aber auch bewogen noch einmal bei einigen nachzufragen, was aus den Menschen nach über einem Jahr geworden ist.

Nach einer Hirnblutung weitermachen

Da ist zum Beispiel Anja Baum aus Bleiwäsche. Das Leben ihrer Tochter Alena stand nach einer Hirnblutung auf Messers Schneide. Eine Delfin-Therapie, die Alena nicht zuletzt auch dank Unterstützung vieler WP-Leser mit ihrer Familie auf Curacao antreten konnte, hat den Teenager weiter nach vorn gebracht: Im Dezember hat Alena ein zweiwöchiges Praktikum im Pflegeheim St. Antonius in Bad Wünnenberg gemacht. „Ich fand es so klasse, dass die Leitung sofort zugestimmt hat, sodass ich meine Tränen vor Freude kaum zurückhalten konnte“, schreibt Alenas Mutter, Anja Baum.

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Das Praktikum habe sie mit viel Freude und voller Elan gemacht. Sie sei so unglaublich glücklich und motiviert gewesen, dass es eine Freude gewesen sei, sie dabei zu beobachten. „Einige von den Senioren haben Alena schnell in ihr Herz geschlossen und umgekehrt genauso.“ Ab August darf Alena dort ein freiwilliges soziales Jahr machen. Vielleicht klappt es vorher noch einmal mit einer Delfin-Therapie, denn die bisherigen Therapien auf Curacao haben sie immer motorisch und auch psychisch große Schritte nach vorn gebracht. Zwischendurch hat sie sich selbst Sütterlin-Schrift beigebracht. Das können viele Ältere noch von früher. Vorab wird sie einen Fernkurs als Alltags Begleiterin machen. Anja Baum: „Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie glücklich wir alle sind.“

Priester und Coach für Krisensituationen

Am Anfang des Mutes steht eine Entscheidung – aber das Fällen von Entscheidungen ist für viele Menschen schwer, besonders wenn diese lebensverändernd sind. Über das Abwägen, den Wert der Träume und den richtigen Moment, ins Unbekannte zu springen, hatten wir mit Dr. Andreas Rohde gesprochen. Er ist Direktor des Bildungs- und Exerzitienhauses St. Bonifatius in Elkeringhausen und als Priester und Coach gefragter Ratgeber in Krisensituationen. „Mut machen in Zeiten von Corona. Das ist kein leichtes Unterfangen“, schreibt er uns gut ein Jahr später. „Denn anders als sonst, wenn Leute mir von ihrer Lebenssituation berichten, stecke ich selber mit in der Situation.“ Das schlägt sich in vielen Aspekten nieder: „Das Bildungshaus hat keine Gäste, private Kontakte habe ich eingeschränkt, der Urlaub an der See ist ausgefallen. Vieles, das mir sonst Halt und Kraft gibt, scheint nicht möglich.“

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Was ihm helfe, sei die bereits oft geübte Taktik, einen zweiten Blick auf die Situation zu werfen. Der könne entschärfen, relativieren und noch einmal genauer hinsehen lassen. „Und dann gibt es doch eine Menge, das mir Mut macht. Manche Kontakte sind intensiver geworden: Telefon, digitale Treffen oder der gute alte Brief. Das schafft Nähe. Und statt des Urlaubs habe ich den Blick von meinem Balkon auf die Berge wirklich lieben gelernt. Ein gutes Buch, duftender Kaffee. Es gibt Dinge, die einfach guttun. Manche lernen wir vielleicht erst durch den zweiten Blick wieder neu schätzen!“

Endlich als Mensch gesehen werden - und frei leben

Ihre Geschichte klingt ein bisschen wie die vom Aschenputtel. Und welches Märchen sollte Mut machen, wenn nicht gerade dieses? Es ist die Geschichte von Silvia M. (Name von der Redaktion geändert): Die ersten Jahre ihres Lebens wuchs sie in einer normalen Familie auf. Es folgten Trennungen, Unsicherheiten, bis sie mit acht Jahren zum Vater und zur letztlich „bösen Stiefmutter“ ging.

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Sie erlebte dort, wie der eigene Vater, völlig fixiert auf die neue Partnerin, sie, das eigene Kind, schließlich auch noch schlug „wegen nichts“. Silvia M’s Geschichte handelt ab dem 12. Lebensjahr von Alkoholexzessen, von Schule schwänzen und schließlich von der Unterbringung im Heim. Die Einrichtung der Jugendhilfe, in der sie vier Jahre lang war, sei das Beste, was ihr habe passieren können, sagt Silvia M. heute: „Ich habe mich dort gut gefühlt, Unterstützung erfahren, auch wenn ich nicht einfach war.“ Silvia M. macht das Fachabi, hat einen Ausbildungsplatz sicher. Sie lernt ihren Mann kennen, feiert mit ihm, er übernachtet bei ihr: „Dann ist er nicht mehr gegangen.“ Schnell wird sie schwanger. Ihre kleine Familie hält sie auf der Lebensbahn. „Es ist mir wichtig, meinen Kindern bestimmte Normen und Werte zu vermitteln, vor allem Empathie, ein positives Sozialverhalten und einen Blick für Schwächere. Ich glaube, das habe ich bis jetzt ganz gut geschafft.“

Die Karriere aufgeben – und ganz neu anfangen

Doktortitel, internationale Großkanzlei in Düsseldorf, Reisen nach Asien und co. Sophia-Antonia Heller war Juristin bei Freshfields, einer der renommiertesten Großkanzleien der Welt. Jetzt lebt sie in Medebach und betreibt das Gut Glindfeld, das vorher ihrem Vater gehörte. Ein radikaler Schritt aus einer steilen Karriere hinaus – in ein neues, ungewohntes Leben. Das erfordert Mut, das braucht Entschlossenheit und ein bisschen Risikofreudigkeit. Das bringt Sophia-Antonia Heller noch immer in ihre Arbeit mit ein.

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Hat Ideen, zeigt innovative Ansätze für das Gut. Familienfeiern und Hochzeiten sollen neben dem Hofladen das Gut wirtschaftlich machen. Dann Corona. „Das Hochzeitsgeschäft ist natürlich erstmal vorbei“, sagt Sophia-Antonia Heller. Im Sommer sei es noch gelaufen, biete das Gut doch die Möglichkeit, im Freien zu heiraten und dadurch mit mehr Personen. Doch jetzt? „Die Kalender sind voll, stattfinden wird wohl erstmal keine Feier.“ Dafür sei der Wildverkauf im Hofladen seit dem Lockdown im Dezember durch die Decke geschossen. „Die Menschen wollten wohl nicht schon wieder die immer gleiche Tiefkühlpizza in der Pandemie. Vor Weihnachten hatten wir unseren Hofladen jeden Tag auf und der Wildverkauf hat sich sehr gelohnt.“ Es sei nicht alles schlecht, sagt sie und versucht, die positiven Seiten in der Krise zu sehen.

Nach dem Tod weitermachen - und anderen helfen

Mit dem Begriff „Mutmacherin“ tut sie sich schwer. Eigentlich fühlt sich die Sauerländerin oft gar nicht mutig, seitdem sich vor einigen Jahren ihr Sohn das Leben nahm. Und dennoch ist sie eine, die Lebensmut macht. Denn sie ist als Gruppenleiterin bei Angehörige um Suizid (AGUS) ehrenamtlich tätig, als wir die Mutmacher-Serie veröffentlichen. Sie ist offen für Sorgen und Ängste anderer Betroffener und bringt in Gesprächen ihre eigene Erfahrung ein. Neun Monate nach dem Suizid ihres Sohnes ging sie erstmals zu einem AGUS-Treffen in Arnsberg, nachdem sie schon Monate vorher im Internet vom Angebot erfahren hatte. „Das erste Treffen, vor allem, wenn man die tragischen Geschichten der anderen hört, das ist erst mal eine geballte Ladung, man ist erstmal fertig. Mindestens drei Termine sollte sich ein Angehöriger geben, um zu entscheiden, ob ihm die Treffen gut tun“, sagt sie heute. „Jeder entscheidet für sich, ob und wie er sich einbringen möchte.“

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Die Sauerländerin selbst blieb, übernahm schließlich eine von zwei AGUS-Gruppen in Arnsberg-Neheim, die sich einmal im Monat trifft. Ende September kamen 260 Suizid-Betroffene, von AGUS bundesweit organisiert, an der tschechischen Grenze zusammen. Sie hat dort eine Angehörigengruppe nach Kindsverlust geleitet. Regelmäßig bietet AGUS auch Wochenend-Seminare für Kindes-, Partner-, Geschwister- oder Elternverlust und neuerdings auch speziell für Familien an. Für AGUS-Mitglieder sind sie kostengünstiger und auch Spenden sind willkommen. „

Unser Austausch kann keine Therapie ersetzen“, betont sie. Wenn alles aufbreche, brauche man Hilfe. Bei ihr selbst war das nach drei Monaten der Fall, als ihr bei einem Familientreffen bewusst wurde, dass ihr Sohn nie mehr dabei sein wird. „Er kehrt nie mehr zurück. Das hat mir den Verlust noch einmal grausam bewusst gemacht.“ Heute, nach vielen Hilfen und einer schweren Zeit, kann sie nach vorne schauen. Und doch: „Ja, habe ich mich wirklich zurück gekämpft?“, fragt sie sich. Aber insgesamt gilt für sie: „Viele Menschen, besonders Betroffene, haben mir zurück ins Leben geholfen, jetzt möchte ich etwas zurückgeben.“