Hochsauerlandkreis. Als Kind vernachlässigt: Silvia M., heute glückliche Familienmutter, erzählt, warum für sie die Zeit im Heim das Beste war, was passieren konnte.

Ihre Geschichte klingt ein bisschen wie die vom Aschenputtel. Und welches Märchen sollte Mut machen, wenn nicht gerade dieses? Es ist die Geschichte von Silvia M. (Name von der Redaktion geändert): Die ersten Jahre ihres Lebens wuchs sie in einer recht normalen Familie auf. Es folgten Trennungen, Unsicherheiten, bis sie mit acht Jahren zum Vater und zur letztlich „bösen Stiefmutter“ ging. Sie erlebte dort, wie der eigene Vater, völlig fixiert auf die neue Partnerin, sie, das eigene Kind, schließlich auch noch schlug „wegen nichts“. Wie hier ein Happy End gelingt? Auf jeden Fall nicht mit Zauberei, aber dank viel pädagogischer Hilfe und eigener Kraft unserer Protagonistin.

Irgendwann muckt das Kind auf. Silvia M’s Geschichte handelt ab dem 12. Lebensjahr von Alkoholexzessen, von Schule schwänzen und schließlich von der Unterbringung im Heim. Damit nicht genug, es geht weiter mit Ausbüxen, sechs Wochen Leben ohne festen Wohnsitz. Bis, ja bis schließlich das Sauerland, aufmerksame Erzieher in einer Jugendhilfe-Einrichtung und später die eigene kleine Familie ihr eine Heimat geben – bis heute.

Ursprungsfamilie

Von vorn: Silvias Eltern trennen sich kurz vor ihrem fünften Geburtstag. Der Vater zieht aus, lernt später eine neue Frau kennen, zieht weit weg. Es gibt Probleme mit den Partnern der Mutter. Und der Vater sowie seine neue Frau haben einen Kinderwunsch. Als der sich nicht erfüllt, beschließen sie, dass sie die Tochter aus erster Ehe zu sich holen. „Sie haben mich manipuliert mit materiellen Dingen, machten meine Mutter schlecht“, so Silvia M. heute. Mit acht entscheidet sie sich, zum Vater zu ziehen, geht weg von der Mutter.

Neue Situation

Trennung, Unsicherheiten - wo gehöre ich hin? So fühlt sich Silvia M. mit fünf Jahren.
Trennung, Unsicherheiten - wo gehöre ich hin? So fühlt sich Silvia M. mit fünf Jahren. © Unbekannt | dpa Picture-Alliance / Sebastian Kahnert


Der Vater ist viel unterwegs. Er ist auch nicht da, als ihr geliebtes Haustier stirbt. Tränenüberströmt wartet Silvia M. zu Hause auf den Vater. Als er endlich die Haustür öffnet und sie ihm weinend entgegen läuft, sagt die Stiefmutter: „Was heulst Du, Du hast doch gerade nicht geheult!“ Ein Beispiel für viele Situationen. Wenn der Vater nicht da ist, brüllt die Stiefmutter sie an. Oft.

Und als diese dann selbst schwanger wird, ist „alles vorbei, ab da war ich nur noch das Anhängsel aus erster Ehe“, so Silvia M. Es geht richtig los, sie ist nicht mehr erwünscht, der neue Nachwuchs ist da, sie soll sich nahezu unsichtbar machen.

Und wenn das nicht geht, weil das schlicht nicht geht, schlägt der Vater zu, so empfindet sie es: „Manchmal dachte ich, ich muss nur zu laut atmen, dann wird er aggressiv.“

Rebellion

Und was macht sie? Schule schwänzen, Drogen, das ganze Programm. „Ich habe richtig Scheiße gebaut.“ Als der Vater sie mit Drogen erwischt, schlägt er ihr Gesicht blau. Sie soll am nächsten Morgen nicht in die Schule, sie geht trotzdem. Endlich wird jemand aufmerksam, endlich geht’s in die Jugendschutzstelle. Mindestens „500 Mal“ wird ihr nicht geglaubt, wie schlimm es zu Hause ist.

Jetzt ist sie erstmal die Schlimme. Die, die abhaut und die Drogen nimmt. Ein Jahr ist sie erst in der Nähe des Vaters im Heim, danach holt er sie zurück. Es geht nur vier Wochen gut. Zu wenig Nähe, zu viel Eifersucht von der Stiefmutter, zu viel Rebellion mit Alkohol und Drogen ihrerseits. Distanz muss her. Silvia M. „landet“ im Sauerland. Ein Glück: Hier erlebt sie Struktur, aber auch klare Ansagen.

Rettungsanker

Alkohol und Drogen können den Kummer nicht beheben, merkt Silvia M., als sie viel Hilfe von den Betreuern einer Jugendeinrichtung bekommt. Dann hilft sie sich selbst.
Alkohol und Drogen können den Kummer nicht beheben, merkt Silvia M., als sie viel Hilfe von den Betreuern einer Jugendeinrichtung bekommt. Dann hilft sie sich selbst. © Unbekannt | Maike Glöckner


Erst die Betreuerin aus der Jugendhilfe-Einrichtung hier glaubt ihr – nach einem Besuch beim Vater. Sie erlebt mit, wie die Stiefmutter Silvia M. demütigt und der Vater nichts tut. „Wir gehen jetzt“, sagt die Betreuerin. Die Einrichtung der Jugendhilfe, in der sie vier Jahre lang war, sei das Beste, was ihr habe passieren können, sagt Silvia M. heute: „Ich habe mich dort gut gefühlt, Unterstützung erfahren, auch wenn ich nicht einfach war.“

Im Heim statt im stressigen Familienumfeld aufzuwachsen, das war für sie eine gute Alternative. Was sie gelernt hat: „Man muss genau darauf achten, dass, wenn Menschen einem sagen: ,Du liegst gerade vollauf daneben“, dass man sie nicht sofort verstößt und hasst, sondern sieht, was dahinter steckt. Es könnte ehrliche Sorge sein.“

Silvia M. ist eine Herausforderung. Insgesamt drei Erzieher sind in der Zeit im oberen Sauerland ihre Hauptbezugspersonen, bis heute hat sie Kontakt zu ihnen. Schon die erste macht ihr klar, dass bei aller Fürsorge gilt: „Bis hierhin und nicht weiter.“ Silvia M. glaubt: „Sie hat meine Akte nicht gelesen, bevor ich kam, sonst hätte sie mich nicht so vorurteilsfrei behandelt. Sie hat nur den Menschen in mir gesehen, ohne meine Geschichte davor.“

Und es klappt: Hier wird ihr geglaubt und sie lernt Grenzen zu akzeptieren, es macht „Klick“. Drogen sind auf einmal kein Thema mehr. Wie hat sie das geschafft? „Ich glaube, das war ich echt mal selber. Ich wollte niemandem die Genugtuung geben, denn es gibt immer noch genug Leute, die einem dem Stempel Heimkind aufdrücken. Ich wollte beweisen, dass jeder in der Lage ist, sein Leben noch auf die Kette, also in gescheite Bahnen zu bekommen. Und ich glaube, für mich habe ich es geschafft.“

Viele Fragen

Warum, Papa? Die Frage lässt sie bis heute nicht los. Sie ahnt, dass es schon in der Familie des Vaters Schlimmes gegeben haben muss, aber was, das fand sie nie heraus. „Ich bin mir sicher, dass er nicht anders konnte.“

Was ist mit ihrer Mutter? „Sie hat immer versucht, Kontakt zu halten, hat mindestens einmal die Woche angerufen, ist regelmäßig vorbeigekommen.“ Nachdem sie weg vom Vater ist, nicht mehr schlecht über die Mutter geredet wird, wird dieser Kontakt mehr. „Es war, als würde mir ein Tuch vor den Augen weggenommen. Ich bin aus der Schleife raus, meinem Vater gefallen zu müssen, um zu überleben.“

Es geht auch um seelisches Überleben. Bis heute liebt sie ihre beiden Eltern, will Kontakt zu beiden - aber selbstbestimmten. Sie ist sich sicher: „Alle Kinder lieben bedingungslos und tun alles, um den Eltern zu gefallen.“ Und andersrum sei es doch in den meisten Fällen genauso, das zeige ihr die eigene Mutter.

Eigene Familie

Silvia M. ist 17 und macht das Fachabi, hat einen Ausbildungsplatz sicher. Sie lernt ihren Mann kennen, feiert mit ihm, er übernachtet bei ihr: „Dann ist er nicht mehr gegangen.“ Schnell wird sie schwanger, ruft ihre Mutter an. Die sagt: „Ach, das Kleine kriegen wir auch noch groß.“ Auch den Vater und die Stiefmutter ruft sie an. Beide freuen sich, auch, aber, so glaubt sie, weil sie nun endgültig nicht mehr im Weg ist, sie hat ja eine eigene Familie.


Genau! Und diese hält sie heute auf der Lebensbahn: ihr Mann, die Kinder. Mit allem Drum und Dran: „Wenn mich mein Sohn bis auf die Knochen reizt, dann schreie ich, knalle Türen, atme tief durch. Und wenn gar nichts mehr funktioniert, gehe ich raus, frische Luft holen.“ Nein, Schläge sind keine Antwort. Liebe sei es und liebevoller Umgang sagt sie. Ihre eigenen Erfahrungen, sie hat sie hinter sich gelassen. Wer sie sieht, käme niemals darauf, dass sie eine Heimgeschichte hat. Sie verschweigt ihre Vergangenheit aber auch nicht.

Und ihr Mann, ist er nun der Aschenputtel-Prinz? Auch hier gab es in zwölf Jahren schon Aufs und Abs, wie in jeder Beziehung. „Aber er sieht mich, weiß mich zu handhaben. Er ist immer da und steht hinter mir.“ Hier ist sie gewollt, so wie sie ist, mit allen Ecken und Kanten. Ein echtes Happy End.

Zukunftswünsche

Es sollte noch mehr auf Kinder geschaut werden, ob es ihnen auch wirklich gut geht, das würde sich Silvia M. wünschen.
Es sollte noch mehr auf Kinder geschaut werden, ob es ihnen auch wirklich gut geht, das würde sich Silvia M. wünschen. © picture alliance / Bildagentur-o | dpa Picture-Alliance / Bildagentur-online/Begsteiger


Doch stop, da gibt es noch ein Anliegen: Silvia M. würde sich wünschen, dass die Kinder noch besser angeschaut werden. „Es passiert noch so viel, wo niemand hilft.“ Den Kindern, den möchte sie mitgeben, sich zu melden, wenn sie schwierige Eltern haben. „Ich möchte, dass meine Kinder wissen, dass sie immer ein zu Hause haben, wohin sie kommen dürfen, ein Bett und einen vollen Kühlschrank haben und immer ein offenes Ohr.“ Kinder sollten sich zu jedem Zeitpunkt geliebt fühlen. Und: „Emotionen müssen ehrlich sein.“

Silvia M. betont: „Es ist mir wichtig, meinen Kindern bestimmte Normen und Werte zu vermitteln, vor allem Empathie, ein positives Sozialverhalten und einen Blick für Schwächere. Ich glaube, das habe ich bis jetzt ganz gut geschafft.“ Sie will, dass ihr Kinder wissen, dass Geld nicht auf Bäumen wächst, dass man auch mit wenig zufrieden sein kann, dass zusammenspielen viel bedeutet.

Und auch das hat sie aus ihrer eigenen Erfahrung gelernt: „Ich finde Zeit total wertvoll auch für Kinder, wenn man einen guten Draht zu ihnen hat, kann man später vielleicht auch anders einwirken, trotz Freundeskreis und Umwelt, die ihnen zu schaffen machen.“ Silvia M. würde sich einen „Elternführerschein“ wünschen, der auch beinhaltet, wie hoch die Frustrationstoleranz der künftigen Eltern ist, wie schnell sie aggressiv werden und ob sie überhaupt in der Lage sind, zu erziehen und Liebe zu geben. „Warum gibt es das für Hunde, nicht aber für Eltern?“, fragt sie. Sehr am Herzen liegt ihr, auf die Internetseite kidkit - Hilfe mit Problemeltern hinzuweisen. Hier könnten betroffene Kinder anonym schreiben, was sie bewegt und bekommen Rückmeldungen und Ratschläge. Es wird nicht gleich Jugendamt oder Polizei informiert, das hätte sie sich auch gewünscht.