Olsberg. Bettina Lang leitet eine Selbsthilfegruppe von „AGUS - Angehörige um Suizid“. Sie selbst verlor im Jahr 2013 ihren Sohn Alex durch Suizid.

Mit dem Begriff „Mutmacherin“ tut sie sich schwer. Eigentlich fühlt sich Bettina Lang oft gar nicht mutig, seitdem sich 2013 ihr Sohn Alexander das Leben nahm. Und dennoch ist sie eine, die Lebensmut macht. Denn heute ist die 55-Jährige als Gruppenleiterin bei Angehörige um Suizid (AGUS) ehrenamtlich tätig. Sie ist offen für Sorgen und Ängste anderer Betroffener und bringt in Gesprächen ihre eigene Erfahrung ein.

Es war Montag, 18. Februar 2013, als Alexander, nach einem Wochenende mit Freunden in Bielefeld noch ganz normal arbeitete und danach trotz des miesen Wetters zum Hautarzt fuhr. Zurück zu Hause aß er seine Lieblingspizza „Chicken“, warf dann einen Blick ins Wohnzimmer zur Familie. Der 18-Jährige blickte jeden einzelnen an, seinen älteren Bruder, seine jüngere Schwester, seinen Vater und seine Mutter. Dazu setzen wollte er sich nicht, ging lieber in sein Zimmer. Drei Stunden später stand die Polizei vor der Tür, begleitet vom Notfallseelsorger. Alexander war nur kurz in sein Zimmer gegangen. Er war mit seinem Auto, „seinem Baby“, weggefahren und unterhalb der Bruchhauser Steine mit hohem Tempo ungebremst gegen einen Baum gefahren. Das Zimmer war abgeschlossen, nachdem sein Vater die Tür aufgestemmt hatte, fanden sie auch schnell den Abschiedsbrief. „In dem Moment fühlte ich mich, als ob mir das Herz verbrennt und mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird.“

Verschiedene Schicksale und doch immer die gleiche Frage nach dem „Warum“

Bettina Lang ist Gruppenleiterin einer AGUS-Selbsthilfegruppe.
Bettina Lang ist Gruppenleiterin einer AGUS-Selbsthilfegruppe. © Westfalenpost | Sonja Funke


Diese traurige Geschichte ist bei jedem Angehörigen anders und doch irgendwie vergleichbar. Und dann kommen die Fragen, die immer gleichen: Wann war der Moment, als sich der Angehörige nicht mehr richtig öffnete? Seit wann hatte er Suizid-Gedanken? „Schuld ist bei jeder Fortbildung ein Thema“, sagt Bettina Lang. Dabei sei die Frage doch vielleicht gar nicht richtig gestellt. Wenn der Angehörige nicht spreche, wie sollte man mehr erfahren? Und wenn er diesen Wunsch hat – was tun? „Ich habe alle Schleifen durch, alles Warum und Wieso und dann sage ich mir, er wollte sicher nicht, dass wir daran kaputt gehen.“ Seiner Familie schrieb der 18-Jährige zum Abschied, dass er mit sich und der Welt nicht klar komme. Er, der sich immer um alle kümmerte, der mit seiner Clique noch Sommerurlaub gebucht hatte - und als Einziger eine Reiserücktrittsversicherung abschloss.

Nur wenige Minuten vor seinem Suizid fragten seine Freunde per WhatsApp: „Alex, was geht am Wochenende?“ Seine knappe Antwort: „Eigentlich Essen mit Tante, gerade Planänderung: Ihr seid die Besten.“ Diese Nachricht sage auch eines aus, so Bettina Lang: Dass er in dem Moment fest entschlossen war. Das wollte sie auch immer den Freunden mitgeben, die ebenfalls Schuldgefühle quälten.

Bettina Lang ist es wichtig, das Thema zu enttabuisieren. Die zweithäufigste Todesursache bei jungen Erwachsenen sei Suizid, gehe man von sechs bis acht Angehörigen aus, sei die Zahl der Betroffenen erschreckend hoch. Nicht nur für Alexanders Geschwister war mit dieser Erfahrung die unbeschwerte Jugendzeit vorbei. Das gesamte Dorf, Antfeld, war erst einmal wie gelähmt, eine entsetzliche und spürbare Stille bei nebligem Wetter.

Weitere Mutmacher in der Region:

„Alexander hatte hohe Ansprüche an sich selbst – zu hohe“, weiß Bettina Lang. Mit der Pubertät sei aus dem fröhlichen Kind plötzlich ein so nachdenklicher Jugendlicher geworden. Er führte augenscheinlich ein abwechslungsreiches, erfülltes Leben, indem er immer mit Freunden „auf Achse“ war und auch viele Stunden täglich im Fitness-Studio. Noch am Morgen hatte sie Alex gefragt, ob es ihm nicht gut ginge, er sah irgendwie so blass aus. Er sagte, alles sei O.K. und sie beruhigte sich: „Es war ja auch ein Wochenende mit wenig Schlaf, er hatte ja gefeiert.“ Und trotzdem: Die Gedanken werden weiter kreisen, aber zumindest von den Abständen dazwischen, die ein Weiterleben, manchmal auch ein recht gutes, ermöglichen, gibt es mehr. „Ich schäme mich nicht dafür, dass mein Sohn Suizid begangen hat, aber ich bin unendlich traurig, dass er so am Leben gelitten hat und eigentlich noch gar nicht richtig angefangen hatte zu leben.“

„Es tut gut, sich als Betroffene gegenseitig gegenseitig zu unterstützen und zu stärken“

Im November 2013, neun Monate nach Alexanders Suizid, ging Bettina Lang erstmals zu einem AGUS-Treffen in Arnsberg, nachdem sie schon Monate vorher im Internet vom Angebot erfahren hatte. „Das erste Treffen, vor allem, wenn man die tragischen Geschichten der anderen hört, das ist erst mal eine geballte Ladung, man ist erstmal fertig. Mindestens drei Termine sollte sich ein Angehöriger geben, um zu entscheiden, ob ihm die Treffen gut tun“, sagt Bettina Lang heute. „Jeder entscheidet für sich, ob und wie er sich einbringen möchte.“

Sie selbst blieb, übernahm schließlich eine von zwei AGUS-Gruppen in Arnsberg-Neheim, die sich einmal im Monat trifft. Ende September kamen 260 Suizid-Betroffene, von AGUS bundesweit organisiert, an der tschechischen Grenze zusammen, „ausgerechnet in Alexandersbad“, sagt Bettina Lang. Sie hat dort eine Angehörigengruppe nach Kindsverlust geleitet. Regelmäßig bietet AGUS auch Wochenend-Seminare für Kindes-, Partner-, Geschwister- oder Elternverlust und neuerdings auch speziell für Familien an. Für AGUS-Mitglieder sind sie kostengünstiger und auch Spenden sind willkommen.


„Unser Austausch kann keine Therapie ersetzen“, betont sie. Wenn alles aufbreche, brauche man Hilfe. Bei ihr selbst war das nach drei Monaten der Fall, als ihr bei einem Familientreffen bewusst wurde, dass Alexander nie mehr dabei sein wird. „Er kehrt nie mehr zurück. Das hat mir den Verlust noch einmal grausam bewusst gemacht.“ Bis dahin hatte sie weiter gearbeitet, irgendwie, doch jetzt ging erst mal gar nichts mehr. Die Schockphase ließ nach, sie blickte knallhart der Realität ins Auge. Bettina Lang war körperlich und psychisch am Ende. Sie ging für ein paar Wochen in eine Klinik, um sich helfen zu lassen. Es gibt auch ambulante Therapien, aber Wartezeiten sind oft sehr lang. Bettina Lang will Betroffenen über die AGUS-Gruppe schnell eine Möglichkeit bieten, sich Hilfe zu holen. Die Polizei, die Notfallseelsorger, alle sind inzwischen mit Flyern ausgerüstet. „Ich wollte schon immer Trauerbegleiterin werden, schon bevor das mit Alexander passiert ist“, sagt die 55-Jährige. Sie ließ sich ausbilden in St. Bonifatius Elkeringhausen von Walburga Schnock-Störmer (Leuchtturm Schwerte) und Helga Franz-Flößer (Heidelberg). Später folgte noch eine Ausbildung mit dem Schwerpunkt Suizid bei Chris Paul (Trauerinstitut in Bonn), die federführend die AGUS-Seminare leitet.

Ein wichtiger Satz: „Ich kann lernen, dass mein eigenes Leben gut weitergehen darf“

Foto aus der AGUS-Ausstellung zum Thema „Suizid“.
Foto aus der AGUS-Ausstellung zum Thema „Suizid“. © WP | WP-BILD,


„Jeder hat seine Form der Trauer und braucht unterschiedlich Zeit“, sagt Bettina Lang. Ihr Chef und ihre Kollegen sind bis heute sehr verständnisvoll, Familie und Freunde waren immer für sie da und sie fand AGUS als Stütze. Es ist ihr Weg; ihre erwachsenen Kinder und ihr Mann nehmen an den Gruppenterminen und –treffen nicht teil, sie verarbeiten den Verlust anders. In der Familie wird viel über Alexander und seine Entscheidung gesprochen.

„Wenn in der Selbsthilfegruppe jeder von seinem Verlust erzählt, kommt vieles wieder hoch. Da ist Selbstschutz und der Schutz aller Gruppenmitglieder ganz wichtig“, sagt Bettina Lang, die Diplom-Sozialarbeiterin ist. Und auch das ist eine Erfahrung aus der AGUS-Gruppe: Jeder behält sein Kind anders im Herzen. Es gibt die eine Mutter, für die ihre Tochter einfach 19 geblieben ist. Für Bettina Lang ist Alexander jetzt 25 und nicht mehr 18, einige Erinnerungsstücke von ihm hat sie verwahrt und ein Fotoalbum erinnert an ein Leben mit einer glücklichen Kindheit und vielen schönen Momenten: „Es geht doch weiter und irgendwo ist er doch noch“, glaubt sie fest. Sie wüsste gerne, wie er jetzt aussehen würde. Zu vielen Freunden besteht weiter Kontakt. „Es bleibt die Gewissheit, dass er nicht vergessen worden ist. Eine besonders enge Freundin von Alex hat nach dessen Tod sogar ein Lied im Tonstudio aufgenommen, das sie selbst geschrieben und gesungen hat. Auch das ist ein wichtiger Teil der Erinnerungsarbeit.“ Besonders geholfen hat Bettina Lang der Brief einer vom exakt gleichen Schicksal betroffenen Mutter, den sie nur wenige Tage nach Alex’ Tod bekam. „Dafür bin ich ihr für immer dankbar.“


AGUS-Ausstellung und Baumpflanz-Aktion von Trees of Memory ins Sauerland holen

„Ja, habe ich mich wirklich zurück gekämpft?“, fragt sich Bettina Lang. Es gibt viele Gefühlsschwankungen. Die ersten Freunde heiraten, haben schon Kinder, warum nicht Alex? Aber insgesamt gilt für sie: „Viele Menschen, besonders Betroffene, haben mir zurück ins Leben geholfen, jetzt möchte ich etwas zurückgeben.“ Konkret möchte sie zum 25-jährigen AGUS-Jubiläum 2020 die AGUS-Ausstellung und eine Baumpflanz-Aktion des Vereins Trees of Memory ins Sauerland holen.

Es geht um neuen Lebensmut und neue Perspektiven - für sich selbst und für andere. Und darum ist Bettina Lang eine Mutmacherin, auch wenn ihr Leben „immer anders sein wird“ als vor dem 18. Februar 2013.



Wer
selbst an Suizid denkt oder gefährdete Menschen kenn
t, sollte umgehend ärztliche Hilfe suchen. Hilfsangebote bietet beispielsweise die Telefonseelsorge, zu erreichen unter Telefon 0800/1110111 oder 0800/1110222.