Olsberg/Brilon. Anatoli Pjatkow aus Olsberg hat schon 20 Operationen über sich ergehen lassen müssen. Sein Umfeld macht ihm das Leben zusätzlich schwer.

Anatoli Pjatkow musste bereits 20 Mal operiert werden, dabei ist er erst 21 Jahre alt. Beim Einkaufen oder im Schwimmbad wird er von Fremden penetrant angestarrt.

Der gebürtige Olsberger, der mittlerweile in Brilon wohnt, hat das EEC Syndrom, eine Abkürzung für Ektrodaktylie – Ektodermale Dysplasie – Cleft. Es ist eine seltene angeborene Erkrankung mit den Hauptmerkmalen einer Kombination von Spaltbildung in Hand oder Fuß, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, verringertem Haarwuchs und Zahnanomalien. Er ist einer von lediglich 300 Fällen weltweit, die je mit EEC notiert wurden. Doch während sich viele mit seinen Äußerlichkeiten beschäftigen, sehen sie nicht, was in ihm steckt.

+++ Sie wollen wissen, was in Brilon, Olsberg, Marsberg, Winterberg und Hallenberg passiert? Melden Sie sich hier zum kostenlosen Newsletter an +++

Dafür muss sich Anatoli im Gegenzug nicht mit den Blicken der anderen beschäftigen. Auf seinem guten Auge sieht er zu fünf Prozent. Er kommt klar, findet sich zurecht ohne eine Brille oder Kontaktlinsen, die seine Einschränkung nicht mildern würden. „Das macht vieles schon schwer. Man fällt aus der Reihe und ich merke, dass ich anders bin. Daher hab ich mich zurückgezogen und bin eher ein Einzelgänger, denn die Leute reagieren komisch auf mich“, sagt Anatoli.

Olsberger versucht es mit Humor

Er fühlt sich phasenweise unwohl in der Gesellschaft, wenn Freunde ihm erzählen, dass er mal wieder komisch angeschaut wird. Manchmal kann er es mit Humor nehmen: „Das ist der Vorteil, wenn man selbst nichts sieht.“ Beleidigungen musste er sich früher auch anhören. Heute kann er das gut ausblenden.

Wegen seiner Sehschwäche ging der gebürtige Olsberger zunächst auf die Förderschule. Dort gab es keine Probleme, die Klassengemeinschaft war gut. Er lernte Selbstständigkeit und seinen Alltag zu bewältigen, trotz eingeschränkter Sehkraft und nur drei Fingern. Aber mit dem Abschluss gab er sich nicht zufrieden. Anatoli wollte mehr für sich, suchte die Herausforderung und wollte gerne Abitur machen. Das Fach Mathematik war aber nicht sein Steckenpferd, daher machte er schließlich sein Fachabitur in Wirtschaft und Verwaltung. Die Regelschule war etwas völlig Neues für ihn. „Ich wusste nicht, wie die Leute reagieren würden und wie ich sein muss. Ich merkte, dass ich nicht da rein passte“, blickt Anatoli zurück. Mobbing gab es nicht. Kontakte aber auch nicht.

Bewerbungen bleiben unbeantwortet

Nach der Schule stand für den 21-Jährigen fest, dass er gerne Industriekaufmann werden möchte. Doch seine Bewerbungen blieben erfolglos. Die Antworten waren rar, trotz duzender Bewerbungen. Für Anatoli aber kein Grund das Handtuch zu werfen. Ein Jahr lang probierte er es immer wieder bis ihn ein Berater beim Arbeitsamt darauf hinwies, dass er es auch mal im öffentlichen Dienst probieren könnte. Das Finanzamt in Brilon gab ihm einen Ausbildungsplatz.

Die Lehre ist anspruchsvoll. Zwischen Online- und Präsenzunterricht wird derzeit gewechselt. Steuerrecht macht ihm zu schaffen. Er benötigte einen zweiten Anlauf, weil die Noten nicht gut genug waren. Sechs Stunden Frontalunterricht hinterlassen Spuren der Anstrengung bei Anatoli: „Es ist schwierig die Konzentration zu halten, wenn ich alles über das Gehör aufnehmen muss. Die Menge vom Unterrichtsstoff ist dann zu viel.“ Aufgeben ist aber keine Option.

Technische Hilfe im Schulalltag

Eine Sprachsoftware liest ihm alles auf dem Bildschirm vor, er hat auch eine spezielle Tastatur, die er mit einem Finger bedienen kann. Außerdem kann er auf eine Assistenzkraft zurückgreifen, die für ihn Notizen macht und Hausaufgaben aufschreibt, die Anatoli ihr diktiert. Um die Hilfe musste er sich selbst kümmern. Anatoli beschreibt den Vorgang als einen umfangreichen Aufwand bei dem er wenig Hilfe hatte und sich allein gelassen fühlte.

Seine Zeit verbringt er lieber für sich im Fitnessstudio. Dort blüht der junge Mann auf. Eigentlich wollte er Fußball spielen, aber in der Freizeit merkte er, dass Spielen in einem Verein mit seiner Sehkraft nicht möglich ist, daher bleibt Kicken ein Hobby. „Aber ich fand schon früher muskulöse Männer sehr cool und das Training sah interessant aus, daher wollte ich auch unbedingt damit anfangen“, erinnert sich Anatoli. Sein Onkel führte ihn an ein paar Übungen heran, den Rest studierte er einfach selbst mit Hilfe von Internetvideos und machte die Übungen vor dem Bildschirm nach. Er wollte so schnell es geht loslegen und keine Zeit mit Probetrainings verlieren und Bewegungsabläufen an denen er kein Interesse hat.

Übungen mit wenigen Fingern

Nicht nur die Beine werden trainiert, wo er an der Beinpresse 300 Kilogramm bewegen kann. Kurzhanteln kommen zwar nicht in Frage, weil zu viel Konzentration alleine für das Festhalten notwendig wäre, aber allen anderen Übungen stellt er sich. Liegestütz, Klimmzüge, Anatoli formt den ganzen Körper und eifert seinen Idolen nach. Vier bis fünf Mal in der Woche ist er im Fitnessstudio zu finden, wenn es nicht gerade wegen eines Lockdowns geschlossen ist.

Für die Zukunft wünscht sich Anatoli vor allem eines: Mehr Offenheit von seinen Mitmenschen. „Seid menschlicher und fixiert euch nicht auf das Äußere. Das sind Menschen wie ihr auch und sie sehen lediglich ein bisschen anders aus, haben eine andere Geschichte, eine andere Herkunft. Dafür können sie nichts und sie sollten nicht dafür mit Ausgrenzung, Mobbing und Ähnlichem bestraft werden.“