Olsberg/Wiggeringhausen/Welemitsche/Macleod. Eine Traueranzeige in der WP erinnert an das Leben einer Zwangsarbeiterin, die 1943 nach Olsberg kommt. Das ist ihre ergreifende Geschichte.
Auf den ersten Blick ist es eine ganz normale Todesanzeige in der WP. Die Familie Schmidt aus Wiggeringhausen gibt bekannt, dass sie um einen geliebten Menschen trauert. Doch ein Satz über dem Schwarz-Weiß-Foto der Verstorbenen lässt aufhorchen: „Zur Erinnerung an schlimmes Unrecht und gegen das Vergessen“. In wenigen Sätzen wird erklärt, welches Unrecht gemeint ist und welche Verbrechen nie unter den Tisch gekehrt werden dürfen. Es geht um Zwangsarbeit und Verschleppung zur Nazizeit. Acht Namen von Trauernden stehen unter der Todesanzeige. Einer von ihnen ist der von Hermann Schmidt. Er und seine Geschwister haben die Anzeige aufgegeben, um an Anna zu erinnern. An Anna Korszniak, geborene Schabunko.
Erst in Australien Sicherheit gefunden
Ein junges Mädchen, das zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde. Nie wieder ist sie zu ihrer eigentlichen Familie zurückgekehrt. Viele Jahre hatte sie Angst davor, als mutmaßliche Kolaborateurin der Nazis in einem russischen Gulak zu enden. Erst auf der anderen Seite der Erdkugel, in Australien, findet sie Ruhe und Sicherheit. Dort ist sie jetzt im Alter von 94 Jahren gestorben.
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„Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit dem Rucksack an der Tür steht. Ein Rucksack voller steinhartem Brot. Ich höre, wie jemand zu ihr sagt: ,Wollen wir das nicht lieber den Schweinen geben?‘ Aber das hat sie vermutlich gar nicht verstanden. Erst als sie wusste, dass sie bei uns nicht verhungern würde, hat sie sich von dem Brot getrennt“, berichtet Hermann Schmidt. Das Mädchen ist damals 16 Jahre alt. Wie sie in das Dörfchen bei Olsberg gekommen ist, bleibt lange Zeit ihr Geheimnis. Darüber spricht sie nicht.
Eva Brambor, Schwester von Hermann Schmidt und damals ebenfalls ein kleines Kind, hat aber immer wieder nachgebohrt und am 13. Juni 2002 einen Brief von Anna Karszniok erhalten. Sie musste ihr damals versprechen, den Inhalt niemals preis zu geben. Und auch nach dem Tod von Anna fühlt sie sich an dieses Wort gebunden. Trotzdem zitiert sie einige Passagen inhaltlich. Anna berichtet darin von furchtbaren Erlebnissen.
Mit Erschießung gedroht
Die jungen Leute in ihrem Heimatdorf werden im Gemeindehaus zusammengetrieben. Ihnen wird gedroht: Falls sie nicht freiwillig als Arbeitskraft nach Deutschland gingen, würden ihre Familien erschossen. Ganze Dörfer werden abgebrannt.
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Überfälle bei Tag und Nacht. Unschuldige Familien, die auf offener Straße erschossen werden. Massen-Erschießungen, Massen-Gräber. Ihren Eltern wird erzählt, Anna sei gestorben. Und dann die schwere Zeit nach dem Krieg, die ständige Angst, aufgespürt zu werden und doch in die alte Heimat zurück zu müssen.
Der Weg ins Sauerland
Die genaueren Umstände kennt auch Hermann Schmidt seinerzeit nicht. Der heute 84-Jährige ist damals noch ein Kind. Erst später hat er sich mit dem Thema beschäftigt und seine Stimme gerät heute ins Stocken: „In so jungen Jahren einfach von zu Hause weggeschleppt werden - schlimm!“ Er ist damals sieben Jahre alt und lebt mit seinen Eltern und fünf Geschwistern auf einem gepachteten Bauernhof in Wiggeringhausen. Das ist eine kleine Ansiedlung zwischen Elpe und Gevelinghausen. Da er und seine Geschwister noch nicht im arbeitsfähigen Alter sind, ist es nicht ungewöhnlich, dass der Hof fremde Hilfe bekommt. Und eines Tages ist Anna einfach da. Bei allem Unrecht, das der 16-Jährigen widerfahren ist, trifft sie in Wiggeringhausen auf eine achtköpfige Familie, die sie freundlich, wohlwollend, ja herzlich aufnimmt.
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Eine neue Familie gefunden
„Die Anna war einfach bei uns mit dabei. Die gehörte dazu“, sagt Hermann Schmidt. Kühe melken, Rüben hacken, Kartoffeln ernten, abends gemeinsam Rosenkranz beten – das Mädchen, das russisch, polnisch und auch sehr schnell deutsch spricht, ist Bestandteil der Familie. „Wenn meine Mutter nicht da war, hatte sie das Sagen über uns Kinder. Ich weiß noch, wenn mein Bruder oder ich beim Essen einmal zu laut wurden, dann genügte ein leichter Schlag mit der Faust und dem nach oben gereckten Daumen auf die Tischplatte – das war für uns das Zeichen, dass wir ruhig sein mussten“, erinnert sich Hermann Schmidt. Mehrfach fällt der Satz „Anna war einfach immer da!“
Internationales Zentrum für NS-Verfolgung
Als Zwangsarbeiterin war Anna Schabunko im Zweiten Weltkrieg ins Sauerland gekommen. Nicht freiwillig. Unter Zwang, unter schlimmsten Bedrohungen, unter Todesgefahr für ihres und das Leben ihrer Familie.
Die Arolsen Archives sind ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes, zur Zwangsarbeit sowie zu Displaced Persons und Migration nach 1945.
Damit ist das Archiv eine wichtige Wissensquelle, besonders auch für jüngere Generationen.Bis heute beantworten die Arolsen Archives jährlich Anfragen zu rund 20.000 NS-Verfolgten. Die Klärung von Schicksalen und die Suche nach Vermissten war über Jahrzehnte die zentrale Aufgabe der Institution, die 1948 von den Alliierten als „International Tracing Service“ gegründet wurde.
Wichtiger denn je sind die Angebote für Forschung und Bildung, um das Wissen über den Holocaust, Konzentrationslager, Zwangsarbeit und die Folgen der Nazi-Verbrechen in die heutige Gesellschaft zu bringen. Die Arolsen Archives bauen ein umfassendes Online-Archiv auf, damit Menschen auf der ganzen Welt Zugriff auf die Dokumente haben und sich informieren können.
Wer sich für die Arbeit des Zentrums interessiert: www.arolsen-archives.org
Eines Tages kommt der Kontrolleur der Nazis aus dem benachbarten Andreasberg. „Sie musste damals so ein Ost-Abzeichen an der Bluse tragen, was sie aber nie an hatte. Meine Mutter hat das dann schnell angenäht, damit wir keinen Ärger bekamen“, sagt Hermann Schmidt.
Sieben Jahre lebt Anna Schabunko in Wiggeringhausen
Sieben Jahre lang verbringt Anna Schabunko in Wiggeringhausen. Anna wird so behandelt, wie alle anderen Schmidts auch. Als die sechs Geschwister selbst auf dem Hof mit anpacken können, sucht sich Anna eine andere Stelle. Der Krieg ist vorbei; zurück in ihre Heimat will sie nicht, kann sie nicht. Sie hat Angst, von den Russen dafür bestraft zu werden, den Deutschen geholfen zu haben. Anna ist staatenlos. Dort nicht mehr zu Hause, hier noch nicht zu Hause. Hermann Schmidt: „Sie hat sich sehr schwer getan und kam bei anderen Anstellungen nicht zurecht. Einmal habe ich sie für ein paar Tage mit dem Motorrad zu uns geholt, da hat sie Urlaubsvertretung gemacht, damit wir ein paar Tage wegfahren konnten. Wir waren ja schließlich ihre Familie, wo sollte sie sonst auch hin. Jeder muss doch ein Zuhause haben.“
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Vielleicht war es aber auch die Angst, die Unruhe, doch noch aufgespürt und zurückgeschickt zu werden. 1963 wandert Anna Schabunko nach Australien aus. Den Kontakt nach Deutschland hält sie all die Jahre. Sie heiratet einen Mann aus ihrer alten Heimat Ukraine, bekommt eine Tochter, hat Enkelkinder. Und in den 80-er Jahren kehrt sie sogar einmal zurück nach Deutschland. Sechs Wochen lang besucht sie mit ihrer Tochter die Familie Schmidt und auch den kleinen Bauernhof in Wiggeringhausen, der inzwischen verkauft wurde.
Hermann Schmidt lebt da schon in Bigge: „Es hat gut getan, sie nach so langer Zeit wieder zu sehen.“ Einige Jahre später kommt ihr Schwiegersohn noch einmal nach Deutschland. „Der hat dann auch endlich das Sparbuch mitgenommen, das wir all die Zeit für sie hier aufbewahrt hatten. Sie wollte einen Notgroschen für alle Fälle haben.“
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Erinnerung ist Wichtig
Als jetzt die Todesnachricht von Anna Korszniak die Familie Schmidt erreicht, hat man zwar ob des hohen Alters eines Tages damit gerechnet. Trotzdem ist die Trauer groß: „Irgendwie geht damit auch ein Stück Leben von uns selbst dahin“, sagt Hermann Schmidt sichtlich bewegt. Die Todesanzeige in der WP aufzugeben, war für die Schmidts selbstverständlich. „Meine Schwester Eva hat das vornehmlich vorangetrieben. Viele haben Anna gemocht und gekannt. Viele haben uns nach Erscheinen der Anzeige angerufen. Es war uns ein Bedürfnis, noch einmal an Anna und an ihr Schicksal zu erinnern.“ Schließlich gehörte sie ja zur Familie. Die Todesanzeige von Anna Korszniak macht inzwischen in den sozialen Netzwerken die Runde. Viele, ganz offensichtlich junge Leute kommentieren den Beitrag. Ein weiteres Zeichen dafür, wie wichtig es ist, dass das Schicksal von tausenden und abertausenden Menschen wie Anna nicht in Vergessenheit geraten darf.