Brilon/München. Strafverteidiger Stephan Lucas ist nah bei mutmaßlichen Mördern und anderen Verbrechern, kämpft für den Freispruch. Ein Einblick ins Seelenleben.

Das Fernsehpublikum kennt ihn als strengen Staatsanwalt aus der TV-Justiz-Serie „Richter Alexander Hold“. Aber auch bei „Maischberger“ oder „Volle Kanne“ meldet sich Stephan Lucas regelmäßig als Rechtsexperte im Fernsehen zu Wort. Im Sauerland ist der 47-Jährige Rechtsanwalt kein Unbekannter, nachdem er in einem Prozess-Marathon vor dem Landgericht Arnsberg eine zehnfache Mutter verteidigt hat, die zwei ihrer Kinder nicht ausreichend versorgt hatte. Ein Junge starb. Mittlerweile ist Strafverteidiger Lucas auch als Kabarettist auf Tournee und er schreibt Bücher.

Im März ist ihr Buch „Auf der Seite des Bösen“ in einer neuen Auflage erschienen? Sie haben es überarbeitet, ergänzt und zur Grundlage ihres zweiten Bühnenprogramms gemacht. Können Sie kurz umreißen, worum es darin geht?

Stephan Lucas: In meinem Buch lasse ich den Leser ganz nah an meinen Beruf als Strafverteidiger heran. Wie ist es, einen Mörder zu verteidigen? Wie fühlt es sich an, mit ihm mehrere Stunden in einer Besucherzelle zu sprechen? Wie halte ich es aus, für einen Mörder um Freispruch zu kämpfen, wenn ich weiß, dass er die Tat begangen hat? Nachdem mir diese Fragen immer wieder gestellt werden, habe ich mich zu diesem Buch entschieden. Heraus gekommen ist ein True-Crime-Buch von einem „true“ Verteidiger. Nicht reißerisch, dafür sehr nah und persönlich. Am 8. März hatte ich mit dem gleichnamigen Bühnenprogramm in Augsburg Premiere. Sie hätten bisweilen eine Stecknadel fallen gehört, so gebannt ist das Publikum meinen Geschichten aus der Praxis gefolgt. Drücken Sie mir die Daumen, dass ich meine Tour im Herbst fortsetzen darf.

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Bauen sie als Verteidiger zu Ihren Mandanten eine persönliche Beziehung auf oder geht es letztendlich „nur“ darum, die Rechte, die jeder Mensch – auch ein Mörder - hat, zu wahren und zu vertreten?

Als Strafverteidiger findet der Großteil meiner Tätigkeit im Beisein der Mandanten statt. Manche Prozesse ziehen sich über viele Monate. Denken Sie an den Fall vor dem Landgericht in Arnsberg. Und immer sitzt der Mandant bzw. die Mandantin neben mir. Es geht um höchstpersönliche Lebensbereiche. Urteile entscheiden weitreichend über das Leben meiner Mandanten. Und die setzen natürlich alle Hoffnungen auf ihren Verteidiger. Da liegt es auf der Hand, dass sich persönliche Beziehungen entwickeln. Es ist wie im „normalen“ Leben. Manche Menschen mag ich gerne, andere weniger – ganz gleich, ob mutmaßlicher Mörder oder Dieb. Von der Sympathie eines Mandanten hängt aber niemals ab, wie ich mich in seiner Sache engagiere. Mein Auftrag ist immer der bedingungslose Einsatz für die Rechte der Mandanten – ohne Wenn und Aber. Und da interessieren mich ausschließlich Prozessrechte und Beweislage.

Seit über 20 Jahren auf der Seite des Bösen

Stephan Lucas, geboren 1972 in Frankfurt am Main, ist Rechtsanwalt und verteidigt seit über 20 Jahren bundesweit mutmaßliche Straftäter. 2006 gründete er in München seine eigene Kanzlei. Seither wirkte der Fachanwalt für Strafrecht in zahlreichen medienpräsenten Strafprozessen mit. Das Fernsehpublikum kennt ihn u.a. aus der TV-Show „Richter Alexander Hold“. Lucas war Nebenklägervertreter im NSU-Prozess und vertrat die Witwe des 1977 ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback im Prozess gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker.

Quält es Sie bzw. Ihr Gewissen nicht, wenn Sie einem Mörder doch noch zu einem Freispruch verhelfen?

Dass ein Angeklagter, der tatsächlich einen Mord begangen hat, freigesprochen werden könnte, ist auch für mich beklemmend. Nicht minder beklemmend ist die Vorstellung, dass ein Unschuldiger lebenslang in Haft geht, der in Wahrheit unschuldig ist. Reicht die Beweislage nicht aus, muss selbst der schlimmste Verbrecher freigesprochen werden. Kämpfe ich als Verteidiger für einen Freispruch, stelle ich mich niemals hin und sage: „Mein Mandant war’s nicht.“ Ich arbeite vielmehr heraus, dass die Beweislage für eine Verurteilung nicht reicht. Der Zweifels-Grundsatz ist für unseren Rechtsstaat ein Glücksfall.

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Sie sind ja nicht nur Strafverteidiger und TV-Staatsanwalt. Mittlerweile machen Sie sich als Kabarettist einen Namen. Ist Justiz ein Thema, das man kabarettistisch aufbereiten kann und sollte?

Unsere Strafgesetze sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und Wertvorstellungen. Die Gerichte füllen diese Gesetze mit Leben aus, denken und entwickeln sie weiter. So können Widersprüche und auch mancher Irrsinn entstehen. Sich hiermit kritisch auseinanderzusetzen, drängt sich nahezu auf. Im Gerichtssaal wie auf der Bühne - die Grenzen zum Kabarett sind da fließend. Ich genieße es, meinen Beruf so facettenreich leben zu dürfen – in Strafprozessen, im TV, in meinen Büchern und auf der Bühne mit meinen Programmen „Garantiert nicht strafbar“ und „Auf der Seite des Bösen“ - immer als Rechtsanwalt. Seit bald zweieinhalb Jahren darf ich auf renommiertesten Kabarettbühnen auftreten, so bei Dieter Hallervordens Wühlmäusen in Berlin. Das bedeutet mir sehr viel.

Bei uns im Sauerland sind Sie nicht zuletzt auch durch die Berichterstattung in unserer Zeitung einem breiten Publikum als Verteidiger einer zehnfachen Mutter bekannt geworden, die zwei ihrer Kinder nicht ausreichend mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt hatte. Was hat Sie an dem Fall gereizt und findet sich der Fall in Ihrem Buch wieder?

Dieser Fall ist zu tiefst tragisch. Völlig unschuldig musste ein gerademal zweijähriger Junge sterben. Täterin ist die Mutter, die den Tod fahrlässig herbeigeführt hat und sich jeden Tag denselben Vorwurf macht: warum habe ich es bloß nicht verhindern können?

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Es war mir ein echtes Anliegen, dieser gebrochenen Frau zu einer fairen Strafe zu verhelfen und im Prozess auch ihre Seite darzustellen. Man überlege sich nur mal: Eine neunfache Mutter zieht ihre Kinder alleine auf. Das ist unverantwortlich. Wo bitte war der Vater, wo das Jugendamt? Für mein Buch hatte ich mich schon früh für einen ähnlich gelagerten Fall entschieden, so dass ich diesen Prozess nicht mit aufgenommen habe. Aber mein nächstes Buch ist in Planung – seien Sie gespannt!

In dem Fall war „Volkes Meinung und Stimme“ eindeutig gegen Ihre Mandantin gerichtet. Ist es daher schwierig gegen vorherrschende Meinungen und Erwartungen anzukämpfen und einen fairen Prozess zu bekommen?

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Volkes Stimme titulierte meine Mandantin u.a. als Rabenmutter. Wer den Prozess nicht vor Ort verfolgt hatte, konnte dieses Bild leicht haben. Das Urteil des Landgerichts Arnsberg erging am Ende „im Namen des Volkes“ - und diesem Anspruch will ein Gericht - wenn auch nur unterschwellig - bei der Prozessführung und dem Urteilstenor gerecht werden. Und es fiel auf: kaum eine Stimme aus dem Volk fragte mal nach dem leiblichen Vater, der Mutter und Kinder offensichtlich kläglich im Stich gelassen hatte. Und die Staatsanwaltschaft hatte zu keinem Zeitpunkt ein Interesse daran, auch gegen den Vater zu ermitteln. Als Verteidiger fühlte ich mich in dem Verfahren ein bisschen wie der Buhmann. Aber das war auszuhalten, weil ich in jedem Stadium des Verfahrens nun mal nur eine Pflicht habe, nämlich mich für die Rechte der Angeklagten einzusetzen.

In einem Vorgespräch zwischen uns beiden haben Sie gesagt, die aktuelle Corona-Situation betreffe Kinder, Kultur und Knast? Die ersten beiden Parameter sind nachvollziehbar – was bewegt Sie beim Stichwort Knast?

Gefangene haben keine echte Lobby. Laut zu sagen, dass sie in der Krise ganz besonders zu leiden haben, führt bei vielen Bürgern bestenfalls zu einem Naserümpfen. Und so ist mit Beginn des Lockdowns in den deutschen Knästen „sang- und klanglos“ das Unfassbare Realität geworden. Untersuchungshäftlinge dürfen in den meisten JVAs seither keinen Besuch mehr empfangen, vielen von ihnen ist es nicht einmal erlaubt zu telefonieren. Diese Häftlinge sind völlig isoliert. Und dabei dürfen wir bitte nicht übersehen, dass für U-Häftlinge die Unschuldsvermutung gilt. Sie sitzen einzig und alleine deshalb in Haft, um – wie es so schön heißt – das Verfahren zu sichern.

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Sie dürfen überhaupt keinen Besuch empfangen?

Vielleicht noch mal deutlicher: Kinder dürfen seit mehr als zwei Monaten ihre inhaftierten Mütter und Väter nicht sehen, ja nicht einmal sprechen. Und die Gründe hierfür erscheinen willkürlich. Denn dieselben Kinder dürften sich mit einem wildfremden Menschen im Restaurant an einen Tisch setzen, nicht aber mit ihrem leiblichen Vater an den Besuchertisch in der JVA. Ich vermisse den geeinten Aufschrei der Anwälte. Und so gehe ich leise, aber bestimmt mit allen Rechtsmitteln gegen diese unerträglichen Missstände vor.

Die Kontaktsperre betrifft offenbar auch ihre Mandantin, die zehnfache Mutter. Wie geht es ihr durch diese Sperre – wie erleben andere Häftlinge diese Abschottung?

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Meine Mandantin ist physisch und psychisch am Ende. Vor dem Lockdown hatte sie dahingehend Vollzugslockerungen, dass sie an zwanzig Stunden pro Woche ihre Kinder sehen durfte, die ja überwiegend auf verschiedene Einrichtungen verteilt leben. Sämtliche Gutachten bescheinigen ihr das dringende Gebot, die Kinder regelmäßig mit ihr zusammenzubringen. Ganz im Sinne des Kindeswohls. Mit dem Lockdown war schlagartig Schluss damit. Eine echte Kontaktsperre; meine Mandantin durfte fortan keines ihrer Kinder sehen. Erst seit kurzem bekommt sie wenigstens ab und zu einen Sonderurlaub, um zumindest ein paar ihrer Kinder ab und zu kurz treffen zu können.

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Haben Sie dagegen etwas unternommen?

Ich kämpfe mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln für meine Mandantin und vor allem ihre unschuldigen Kinder, dass sie ihre Rechte zurückbekommen. Ein Kampf gegen Windmühlen.

Halten Sie die Einschränkungen, die uns allen im Lockdown auferlegt wurden, für richtig – aus Sicht des Menschen Stephan Lucas und aus Sicht des Juristen?

Jurist und Mensch lassen sich schwer trennen. Mich sorgt enorm, dass seit mehr als zwei Monaten nicht unsere gewählten Vertreter, sprich die Parlamente, sondern die Ministerpräsidenten und ihre Minister, also die Exekutive, die Entscheidungen treffen, mit welchen sie massiv in unsere Grundrechte eingreifen. Ein echter Dialog, wie wir ihn sonst im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren erleben, findet nicht statt. Dass da bei all den massiven Beschränkungen unserer Grundrechte auf Bildung, freie Berufsausübung, Versammlungsfreiheit oder Freizügigkeit immer die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird, sehe ich nicht; und das bestätigen auch viele Gerichtsurteile der vergangenen Wochen, die so manche politische Entscheidung eingebremst haben.

Was muss Ihrer Meinung nach anders laufen?

Überlegen Sie mal, welche unendlichen Debatten zum Thema Organspende geführt wurden? Solche Diskussionen müssen auch und erst recht beim Umgang mit der Pandemie dringend her, ohne dass sie gleich als Orgien verschrien werden. Leider nicken zu viele die ganzen Exekutiventscheidungen unkritisch ab, während auf der anderen Seite die lauten Verschwörungstheoretiker das Wort ergreifen. Diejenigen, die konstruktive Kritik anmelden, gehen leider unter. Sie sind kaum zu hören. Aber genau die brauchen wir in einem solchen (politischen) Ausnahmezustand, und ich meine da auch manche viel zu leisen Juristenkollegen. Und so empfinde ich die aktuelle Krise als Jurist und Mensch ehrlich gesagt als äußerst beklemmend.

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Recht haben und Recht bekommen sind zwei Paar Schuhe – würden Sie dieses Sprichwort unterschreiben?

„Es kommt darauf an“ – um die Antwort mal mit einem typischen Juristensatz zu beginnen. Wenn Sie mit „Recht bekommen“ meinen, dass bei Gericht immer alles „richtig“ im Sinne einer – sagen wir - poetischen Wahrheit aufgeklärt würde, trifft ihr Satz leider in den meisten Fällen zu. Denn das kann von Richtern schlichtweg nicht geleistet werden. Aber so sollte man natürlich nicht argumentieren. Richter sind nicht der liebe Gott. Sie sind nicht allwissend, waren bei den Taten, die sie verhandeln, nicht dabei, und sie können und müssen sich deshalb einzig mit der Beweislage auseinandersetzen. Und da gibt es in unserem Rechtsstaat klare Regeln. So hat ausnahmslos jeder – egal ob mutmaßlicher Dieb oder Massenmörder – ein Recht auf ein faires Verfahren. Er hat dieses Recht – und er bekommt es. Auch wenn dabei oftmals erst ein guter Verteidiger nachhelfen muss...