Medebach. . Prozessauftakt: Anakin wurde zwei Jahre alt. Er verhungert 2014. Hat eine Mitarbeiterin des Jugendamtes im HSK nicht genau genug hingesehen?
„Wäre die Angeklagte ihrer Pflicht zur engmaschigen Kontrolle nachgekommen, hätte sie erkennen müssen, dass eine Gefahr für Leib und Leben der Kinder bestand.“ Klare Worte, die Staatsanwalt Klaus Neulken am Donnerstag im Medebacher Amtsgericht formuliert. Dort muss sich eine 28-jährige Sozialarbeiterin des HSK-Jugendamtes verantworten. Ihr wird fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen.
Wenn Kinder qualvoll sterben
Dezember 2013: Das Landgericht Bonn stellt ein Verfahren gegen eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt Königswinter gegen Geldauflage ein. Ihr war fahrlässige Körperverletzung im Amt durch Unterlassung und Urkundenunterdrückung vorgeworfen worden. Es ging um Anna (9), die von den Pflegeeltern gequält worden war. Auch nach Hinweisen holte das Jugendamt Anna nicht aus der Familie. Im Juli 2010 ertränkte die Pflegemutter das Kind. Sie wurde 2011 zu lebenslanger Haft, der Pflegevater zu sechseinhalb Jahren verurteilt.
■ April 2011: Drei Jahre nach dem Tod der acht Monate alten Siri wird eine Jugendamtsmitarbeiterin in Wetzlar freigesprochen. Sie stand wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen vor dem Landgericht Limburg. Kurz vor dem Tod des Mädchens im Mai 2008 hatte sie die Familie besucht, aber keine Auffälligkeiten festgestellt. Die Eltern, die das Baby misshandelt und ihm den Schädel zertrümmert hatten, wurden 2009 zu lebenslanger Haft verurteilt.
■ August 2010: Das Landgericht Bremen stellt das Verfahren gegen den Ex-Amtsvormund des misshandelten Kevin (2) gegen eine Geldauflage ein. Ihm war fahrlässige Tötung vorgeworfen worden. Die Polizei hatte im Oktober 2006 das Kind tot im Kühlschrank in der Wohnung seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden, der 2008 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.
■ September 1999: Weil er nicht genug getan hat, um Jenny (2) zu schützen, wird ein Sozialarbeiter vom Landgericht Stuttgart wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt; ein zweiter wird freigesprochen. Das Mädchen starb 1996 nach Misshandlungen durch die geistig behinderte Mutter und Bekannte.
Doch gibt es juristisch überhaupt so eine Kontroll-Pflicht? Diese Frage stellt Verteidiger Thomas Mörsberger gleich zu Anfang. Seiner Meinung nach gehe die Staatsanwaltschaft lediglich von einer „öffentlich formulierten Erwartungshaltung“ aus. Die Anklage sei nicht schlüssig, die rechtliche Grundlage sehr vage.
Im Januar 2016 steht die Mutter der Kinder vor Gericht
Rückblende, 24. Februar 2014. Ein Zweijähriger stirbt: Anakin. Er verhungert und verdurstet. Einen Tag vorher: Seine neun Monate alte Schwester ist stark unterernährt: Serenity Seraphina. Sie springt dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe. Im Januar 2016 steht die Mutter der Kinder vor Gericht. Fahrlässige Tötung, fahrlässige Körperverletzung.
Doch inzwischen geht die Anklage von mehr aus: Sie unterstellt einen bedingten Vorsatz. Die inzwischen zehnfache Mutter (39), die damals im Raum Winterberg wohnt, muss deswegen ab September vor dem Schwurgericht Arnsberg erscheinen. Im Laufe des Prozesses vor eineinhalb Jahren in Medebach rückt aber immer mehr das Jugendamt des HSK in ein schlechtes Licht – hier ganz speziell jene heute 28-jährige Mitarbeiterin, die sich jetzt vor Gericht verantworten muss.
Nicht einfach Kontakt zu der Familie herzustellen
Auch interessant
Drei Wochen vor der Einlieferung ins Krankenhaus soll sie das kleine Mädchen noch gesehen haben. Vom katastrophalen ausgezehrten Zustand des Kindes habe sie nichts bemerkt, zumal das Mädchen bekleidet gewesen sei. Chronologisch erzählt die 28-Jährige, dass es nicht immer einfach gewesen sei, den Kontakt zu der Familie herzustellen. Um das jüngste Kind habe sich die Abteilung Kinderschutz beim Jugendamt gekümmert; eine Familienhebamme sei eingeschaltet worden. Diese habe nach vier Wochen signalisiert, das Kind habe an Gewicht zugenommen, die Frau komme allein zurecht. Sie selbst habe erst später wieder wegen schulischer Probleme eines anderen Kindes der Familie mit der Mutter zu tun gehabt.
Richter reagiert mit Unverständnis
Richter Ralf Fischer kann trotzdem nicht verstehen „warum Sie nicht genauer hingeschaut haben?“ Vom Jugendamt des Vogtlandkreises, wo die Großfamilie vorher gelebt hatte, gab es eindeutige Hinweise über Probleme: Von Kindesmisshandlung durch den Vater, von Gurten an den Betten, mit Kot verschmierten Tapeten und Unterernährung ist da die Rede. Fischer: „Hätten da bei Ihnen nicht alle Alarmglocken schrillen müssen? Hätte in so einem Fall nicht der normale Menschenverstand sagen müssen, da gucke ich mal genauer hin?“
Tiefe Betroffenheit beim Jugendamt
Der Leiter des HSK-Jugendamtes erklärt im Zeugenstand, dass es nicht immer einfach sei, eine Beziehung zu solchen Familien aufzubauen. Er und seine Mitarbeiter seien tief betroffen. Man habe der Mutter sehr wohl diverse Hilfen angeboten und man sei alles andere als untätig gewesen. Eine Sozialarbeiterin des Vogtlandkreises sagt aus, sie sei der Familie ständig auf die Pelle gerückt. „Ich glaube, wir waren der Mutter schon lästig.“ Man habe aber durch Beharrlichkeit einige Dinge bewegen können. Kommentar des Staatsanwaltes. „Dort hat es offenbar geklappt.“ Kommentar des Verteidigers: „Ja, mit der Folge dass die Familie weggezogen ist.“
Der Prozess wird am 27. April fortgesetzt.
Folgen Sie der Westfalenpost im Altkreis Brilon auch auf Facebook.