Medebach. Einem Laien hätte auffallen müssen, dass etwas nicht stimmt, sagt ein Arzt beim Prozess gegen eine Frau, deren Kind gestorben ist. Vorwürfe macht der Richter dem Jugendamt.
„Auch einem Laien hätte auffallen müssen, dass mit den beiden etwas nicht stimmt.“ Dr. Martin Rey war Chefarzt der Kinderabteilung des Hüstener Krankenhauses. Die Bilder der abgemagerten Kinder hat er nicht vergessen. Anakin, der zweijährige Junge, ist im Februar 2014 gestorben, weil er „extrem ausgehungert und ausgetrocknet“ war. Seine neun Monate junge Schwester Serenity überlebt. Seit gestern muss sich die Mutter der beiden und sieben weiterer Kinder vor dem Amtsgericht Medebach wegen fahrlässiger Tötung und wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten.
Aussagen mit leiser Stimme
Die 38-jährige Frau verbirgt ihr Gesicht unter schwarzer Kappe und Schal. Auch als die Kameraleute den Sitzungssaal 15 verlassen, bleibt sie vermummt. „Niemand macht jetzt weitere Fotos, bitte machen Sie Ihr Gesicht frei, wir möchten Sie sehen.“ Die Angeklagte folgt der Aufforderung von Staatsanwalt Klaus Neulken. Verschämt hält sie sich eine Hand vors Gesicht. Schwer wiegen die Vorwürfe, mit denen sich das Gericht an drei Verhandlungstagen beschäftigen muss.
Mit leiser Stimme erzählt sie aus ihrem Leben. Dass sie in Bremen zur Welt kommt, dass sie sechs Geschwister hat, aber allein bei ihrer Mutter aufwächst. Dass sie mit 16 Jahren in eine Wohngruppe geht und mit 21 Jahren das erste Kind zur Welt bringt. Sie hat das Zeug für weitere schulische Qualifikationen, aber dem Vater ihrer Kinder ist der Computer wichtiger als familiäre Pflichten. Mehrfach zieht die Familie, die von Sozialhilfe lebt, um. Heute leben noch zwei Kinder bei ihr, die anderen sind woanders untergebracht. Wie sie sich ihre Zukunft vorstelle, will Richter Ralf Fischer wissen: „Ich will meine Familie wieder haben.“
Im Juni 2013 landet sie allein mit den Kindern im Großraum Winterberg. „Ich hatte den Eindruck, dass sie mehr für die Kleinen als für sich selbst getan hat. Sie selbst schlief hinter einem Vorhang“, sagt ein Polizeibeamter aus. Und: „Ja, ich habe viel selbst gekocht; darauf habe ich immer Wert gelegt.“ Umso unverständlicher, dass ein Kind stirbt und ein anderes nur in letzter Minute gerettet werden kann...
Höhere Kontrolldichte angemahnt
„Sie müssen doch gemerkt haben, wie es um Ihre Kinder bestellt war. Die Ernährungssituation war verheerend“, sagt Richter Ralf Fischer. Die Kinder seien ganz mobil gewesen, entgegnet die 38-Jährige. Anfang Januar sei sie mit einem der Kinder wegen Durchfalls und Wundsein beim Hausarzt gewesen. Da sei auch nichts aufgefallen. Bei Geschwisterkindern sei eine Art Stoffwechselstörung bekannt; vielleicht sei das der Grund für das Abmagern der beiden gewesen.
Vorwürfe erhebt Fischer gegen das Jugendamt. „Bei einer solch schwierigen sozialen Situation muss man vom Jugendamt eine höhere Kontrolldichte erwarten. Das Jugendamt trifft zumindest eine moralische Verantwortung hoch drei.“
Bevor die Beweisaufnahme starten konnte, hatte Verteidiger Breuer wegen der Anklage-Formulierung einen Befangenheitsantrag gestellt. Er vermisse den Zusatz „durch Unterlassen“ und hege Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts. Der Antrag wurde abgelehnt.
Das Verfahren wird am Donnerstag (14. Januar) fortgesetzt: Dabei wird ein weiterer Arzt des Karolinenhospitals Hüsten zu Wort kommen. Außerdem wird das Gutachten des Sachverständigen und obduzierenden Gerichtsmediziners und eines Jugendmediziners vorgestellt. Für den 26. Januar ist vor Ende der Beweisaufnahme das psychiatrische Gutachten vorgesehen, das die Frage der Schuld und Einsichtfähigkeit beleuchtet.
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