Medebach. . Vor dem Amtsgericht Medebach ist der Prozess gegen eine Sozialarbeiterin eröffnet worden. Sie soll eine Mitschuld am Tod eines Jungen haben.
- Prozess gegen Jugendamtsmitarbeiterin des Hochsauerlandkreises in Medebach eröffnet
- Frage nach Mitschuld am Tod eines zweijährigen Jungen bleibt offen
- Verteidiger der Frau meint: Die rechtliche Grundlage für die Anklage fehlt
„Wenn ein Jugendamt auf solche Vorzeichen nicht reagiert, dann ist die ganze Einrichtung überflüssig.“ Scharfe Worte, die Richter Ralf Fischer im Fall des verhungerten zweijährigen Anakin gestern im Medebacher Amtsgericht formuliert. Zum ersten Mal überhaupt gibt es keinen freien Sitzplatz mehr in Saal 15. Fotografen drängen sich um den kleinen Tisch, an dem eine Frau mit blassem Gesicht und ihr Anwalt Platz nehmen. Die 28-jährige Mitarbeiterin des HSK-Jugendamtes hält sich keinen Aktendeckel und keine Hand vors Gesicht. „Meine Mandantin ist tapfer und möchte beweisen, dass die gegen sie erhobene Anklage unberechtigt ist“, sagt Verteidiger Thomas Mörsberger. Dabei sind die Vorhaltungen schwer.
Staatsanwalt: Fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung
Fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung wirft Staatsanwalt Klaus Neulken der Sozialarbeiterin vor, die selbst in einer Pflegefamilie groß geworden ist. Die Jugendamtsmitarbeiterin soll eine Mutter, die 2013 mit ihren neun Kindern vom Vogtland in den Raum Winterberg gezogen war, nicht „engmaschig“ genug kontrolliert haben. „Hätten Sie bei Ihren Hausbesuchen genau hingeschaut, würde das Kind noch leben“, so Richter Fischer. „Wären Sie Ihren Pflichten nachgekommen, hätten Sie die Gefahr für Leib und Leben der Kinder erkennen können“, so Staatsanwalt Neulken. Doch gibt es juristisch betrachtet überhaupt so eine Kontroll-Pflicht? Diese Frage stellt der Verteidiger der Frau, Thomas Mörsberger. Seiner Meinung nach gehe die Staatsanwaltschaft lediglich von einer „öffentlich formulierten Erwartungshaltung“ aus.
Rückblende, 24. Februar 2014. Ein Kind stirbt mitten im Sauerland; der zweijährige Anakin verhungert und verdurstet. Einen Tag vorher: Seine neun Monate alte Schwester ist stark unterernährt. Serenity Seraphina springt dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe. Im Januar 2016 steht die Mutter der Kinder vor Gericht. Die Vorwürfe: fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung. Doch inzwischen geht die Anklage von mehr aus: Sie unterstellt einen bedingten Vorsatz. Die inzwischen zehnfache Mutter (39), die damals im Raum Winterberg wohnte, muss deswegen ab September vor dem Schwurgericht Arnsberg erscheinen.
Ausgezehrten Zustand des Kindes nicht bemerkt
Vertreten wird sie inzwischen von einem Anwalt aus München, der auch im NSU-Prozess tätig sein soll. Im Laufe des Prozesses vor eineinhalb Jahren in Medebach rückte immer mehr das Jugendamt des HSK in ein schlechtes Licht – hier ganz speziell jene heute 28-jährige Mitarbeiterin, die sich jetzt vor Gericht verantworten muss.
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Drei Wochen vor der Einlieferung ins Krankenhaus soll sie das Mädchen noch gesehen haben. Vom katastrophalen ausgezehrten Zustand des Kindes habe sie nichts bemerkt. Chronologisch erzählt die 28-Jährige, dass es nicht immer einfach gewesen sei, den Kontakt zu der Familie zu halten. Um das jüngste Kind (Serenity) habe sich eine Familienhebamme gekümmert. Diese habe nach vier Wochen signalisiert, die Mutter komme allein zurecht. Sie selbst habe erst später wieder wegen schulischer Probleme eines anderen Kindes mit der Familie zu tun gehabt. Einige geplante Hausbesuche seien an der Mutter gescheitert.
Brandbrief aus dem Vogtland: Kot verschmierte Tapeten
Immer wieder zitiert der Richter einen „Brandbrief“ des Vogtlandkreises, wo die Großfamilie vorher gelebt hatte, an das HSK-Jugendamt. Von Kindesmisshandlung durch den Vater, von Gurten an den Betten, mit Kot verschmierten Tapeten und Unterernährung ist da die Rede. Fischer: „Hätten da bei Ihnen nicht alle Alarmglocken schrillen müssen? Hätte in so einem Fall nicht der normale Menschenverstand sagen müssen, da gucke ich mal genauer hin?“
Der Leiter des HSK-Jugendamtes erklärt als Zeuge, er und seine Mitarbeiter seien tief betroffen. Man habe der Mutter diverse Hilfen angeboten. Der 56-Jährige sagt aber auch: Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen im HSK habe sich von 50 Fällen in 2009 bis 2016 mehr als verfünffacht, seine Mitarbeiter seien „stark gefordert“ und stießen „im einen oder anderen Fall an ihre Grenzen“. Inzwischen hat der Kreis das Jugendamt personell aufgerüstet. Der Vorfall sei aber nicht Impuls dafür gewesen.
Prozess wird am 27. April fortgesetzt
Das Jugendamt des Vogtlandkreises ist der Familie ständig auf die Pelle gerückt. „Ich glaube, wir waren der Mutter schon lästig“, so eine Mitarbeiterin. „Das hat sich offenbar ausgezahlt, denn dort hat einiges geklappt“, meinte der Staatsanwalt. Kommentar des Verteidigers: „Ja, mit der Folge dass die Familie weggezogen ist.“ Der Prozess wird am 27. April fortgesetzt.