Iserlohn. Er ist Weltmeister und Galionsfigur des italienischen Fußballs: Gianluigi Buffon. Der Heimatzeitung hat er ein Exklusivinterview gegeben.
Die Fußball-Europameisterschaft ist zwei Wochen alt und damit zumindest zeitlich in der Halbzeit, allerdings sind schon 36 der 51 Partien bereits absolviert. Mit dem Beginn der K.o.-Spiele geht das Turnier jedoch jetzt erst richtig los. Nach dem hochspannenden Kroatien-Spiel erhielt die Heimatzeitung die Möglichkeit, mit Gianluigi „Gigi“ Buffon zu sprechen, dem Delegationsleiter der Squadra Azzurra, die bekanntlich in Iserlohn ihr „Team Base Camp“ aufgeschlagen hat. Möglich hat das Interview Christian Kißmer gemacht, der Leiter des städtischen Sportbüros. Eine zentrale Rolle kam auch dem lokalen Organisator des „Casa Azzurri“, Adriano Zappala zu, der für die Übersetzung ins Italienische und Deutsche sorgte. Einzige Bedingung für das Treffen, das sogar im Mannschaftsquartier, dem Hotel „VierJahreszeiten“, stattfand: Auf Detailfragen zu Taktik, Aufstellung oder der Bewertung der bisher gezeigten Leistungen musste verzichtet werden.
Herr Buffon, auch wenn wir hier keine sportlichen Details klären können, müssen Sie uns nach diesem Drama gegen Kroatien verraten: Was haben Sie ab der 90. und dann vor allem in der 98. Minute gedacht und gefühlt?
Gianluigi Buffon: Ich möchte das, was ich gefühlt habe, gar nicht auf die Nachspielzeit reduzieren. Sicherlich ist es so, dass ich mich wegen solcher Emotionen, die am Montag freigesetzt wurden, seit mehr als 30 Jahren für diesen Sport begeistern kann. Wir waren natürlich alle sehr glücklich, weil sehr schöne Gefühle freigesetzt wurden. Das war vor allem sehr wichtig für Italien.
Nehmen Sie uns doch bitte in die Kabine mit und verraten uns, was darin und auf der Rückreise stimmungsmäßig losgewesen ist.
In der Kabine herrschten vor allem Erleichterung und Zufriedenheit. Die große Party gab es nicht, weil die Jungs natürlich platt waren. Und das gehört auch zur Wahrheit: Wir haben keinen großen Sieg errungen, sondern nur das erreicht, was wir uns vorgenommen haben. Das Quartier haben wir sehr spät wieder erreicht, erst gegen 5.30 Uhr, obwohl der Flug nur etwa 30 Minuten gedauert hat. Wir, die Älteren und auch der Trainerstab, sind danach sofort ins Bett gegangen, aber die Jungs sind noch eine Stunde wach geblieben und haben ihre Freude miteinander geteilt.
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Sie sind jetzt seit mehr als zwei Wochen hier. Armando Varricchio, der Botschafter Italiens in Deutschland, hat sich im Hotel kurz vor Ihrer Ankunft umgesehen und festgestellt: Hier wird sich das Team wie zuhause fühlen. Hat er Recht?
Oh ja, definitiv. Wir fühlen uns hier tatsächlich wie zu Hause. Das hat zwei Gründe. Erstens: Das Hotel und die Sportanlage haben, das kann ich ganz klar so sagen, einen sehr hohen Standard. Wir werden hier mit allem versorgt, was wir brauchen. Der zweite Hauptgrund ist die Präsenz der Italiener, unserer Fans. Die ist vom ersten Tag an so stark, dass man sich manchmal schon wieder ein bisschen unwohl fühlt, weil man denkt, dass man so viel Liebe, die uns umsonst geschenkt wird, überhaupt nicht verdient hat.
Von der so nie zuvor dagewesenen Italien-Euphorie, die momentan in der Stadt herrscht, bekommt die Mannschaft also schon etwas mit?
Aber natürlich. Es ist unglaublich. Zu jeder Tageszeit sind zwischen 50 und 300 Leute vor unserem Quartier, und so viele Leute warten auch vor den Stadiontoren, wenn wir dort trainieren. Natürlich bekommen wir auch mit, was im „Casa Azzurri“ los ist. Nochmal: Dass wir hier so beliebt sind, überwältigt uns.
„Ich komme mir vor, als würde ich 2006 gerade noch einmal erleben.“
Bitte vergleichen Sie doch mal Iserlohn mit Duisburg, Ihrem Quartier während der WM 2006.
Ich finde, dass es sehr viele Ähnlichkeiten gibt. Dazu zähle ich die Umgebung und die menschliche Wärme. Auch die sportlichen Einrichtungen lassen sich von der Qualität her miteinander vergleichen. Hier sind wir vielleicht in dem anspruchsvolleren Hotel, während unser Quartier in Duisburg von einer italienischen Familie geführt wurde und heute noch geführt wird, die nach Deutschland ausgewandert ist. Aber weil es so viele Ähnlichkeiten gibt, komme ich mir vor, als würde ich 2006 gerade noch einmal erleben.
War denn auch der Rasen in Duisburg so gut wie hier?
In den ersten Tagen nach unserer Ankunft war der Platz hier etwas hart, aber das hat sich gelegt. Es macht sich bemerkbar, dass hier professionell gearbeitet wird. Bevor wir mit dem Training beginnen, kümmern sich zehn Personen um den Rasen, und wenn wir fertig sind, ist es genauso. Jetzt ist der Rasen deutlich besser als damals in Duisburg.
Sie waren am Sonntag mit Ihrer Familie, also Ihrer Frau und Ihren Kindern, zu Gast im „Casa Azzurri“. Wie hat es Ihnen dort gefallen?
Sehr gut. Es ist groß, aber trotzdem übersichtlich. Besonders gefällt mir, dass man für das „Casa“ eine Sporthalle ausgewählt hat. Dadurch gibt man auch den umliegenden Schulen eine Wichtigkeit.
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Haben Sie von Iserlohn sonst schon etwas gesehen? Angeblich sind sie gerne mit dem Fahrrad unterwegs.
Das stimmt, mit dem Fahrrad war ich schon häufig unterwegs. Und das, was ich dabei gesehen habe, hat mir auch gefallen. Hier gibt es ja wirklich viel Wald, in den ich eintauchen und als ganz normaler Mensch die Momente einfach genießen kann. Das gelingt in meiner Position ansonsten nicht sehr oft.
Was machen denn die Spieler, wenn nicht gerade trainiert wird oder die nächste Partie ansteht?
Am Dienstag war der erste trainingsfreie Tag. Den haben viele Spieler dazu genutzt, nach Dortmund oder Düsseldorf zu fahren, weil das eine sehr schöne Stadt ist. Düsseldorf war schon 2006 als Ausflugsziel sehr beliebt bei uns. Wenn die Spieler hier bleiben, sind einige ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs. Im Hotel gibt es die Möglichkeit, sich an die Bar zu setzen, um etwas zu trinken und sich zu unterhalten, und im sogenannten Spielzimmer stehen eine Tischtennisplatte und ein Billardtisch.
Haben die Spieler auch die Möglichkeit, ihre Frauen und Familien zu sehen so wie Sie?
Ja, natürlich, das gehört zu unseren Grundsätzen. Wenn wir am Abend ein Spiel hatten, wird am nächsten Morgen trainiert, so dass am Nachmittag Zeit für die Familie ist.
Stimmt es, dass Sie Fan von Borussia Mönchengladbach sind?
Ja, das ist absolut richtig. Als ich klein war, gab es ein Tischfußballspiel, das „Subbuteo“ hieß. Und bei diesem Spiel war eben auch dieses Team mit diesen tollen Trikots und dem tollen Namen. So fing es an, dass ich beim Spielen gerne diesen Verein genommen und seitdem immer verfolgt habe.
Es waren bislang schon einige hochrangige italienische Politiker in Zusammenhang mit der EM in der Stadt, unter anderem Außenminister Antonio Tajani bei der Eröffnung des „Casa Azzurri“. Erwarten Sie in den nächsten Tagen nochmals hohen Besuch aus Rom?
Ich denke schon, denn je weiter wir im Turnier kommen, desto attraktiver wird es, die Spiele zu sehen und vielleicht sogar einen Tag als Fan hier zu verbringen. Das ist doch das Schöne am Fußball: Er bringt alle auf die gleiche Ebene – die Reichen, die Armen, die Wichtigen, die weniger Wichtigen. Das ist die Magie des Fußballs.
Könnte es sich bei dem Besuch auch um Ministerpräsidentin Giorgia Meloni handeln?
Vermutlich ja, aber das wird wohl erst der Fall sein, nachdem wir ins Halbfinale oder ins Finale eingezogen sein sollten. So war das 2006 auch, damals hat uns Romano Prodi vor dem Spiel in Dortmund besucht.
Wie wichtig sind die Unterstützung der Menschen und das Bewusstsein für die Mannschaft, dass eine ganze Nation auf sie schaut?
Das ist besonders wichtig. Wenn ich an meine eigene Zeit als Spieler zurückdenke, dann war das zunächst mal nur ein Job. Ob wir gewonnen haben oder nicht, hätte uns fast egal sein können. Natürlich hatte das eine Relevanz, aber die wurde durch das Bewusstsein entscheidend erhöht, dass viele Menschen für diesem Moment, für diese 90 Minuten gelebt haben. Wir wissen, dass unsere Ergebnisse einen starken Einfluss auf das Leben der Menschen haben. Die damit zusammenhängende Verantwortung habe ich immer gespürt, und deswegen habe ich es auch immer bedauert, dass ich nicht in der Lage war, etwas zurückzuzahlen, wenn es schief ging. Am Ende des Tages, wenn ich meine Karriere mit den Niederlagen, die ich hatte, analysiere, dann taten mir die Leute leid. Ich hatte kein Mitleid mit mir, denn schließlich bin ich Sportler – ich weiß, dass ich gewinnen und verlieren kann, und ich weiß, dass manchmal jemand besser sein kann, so ist der Sport. Ich hatte einfach Mitleid mit den Leuten.