Essen. Viele Mannschaften setzen auf Sicherheit, die Stars wirken schlapp, es fallen immer wieder Eigentore. Langweilig? Nicht ganz.
Und dann schießt er auch noch einen Freistoß. Er, also Cristiano Ronaldo, der den Ball früher so treffen konnte, dass das runde Leder wie ein Düsenjet in den Winkel raste. Der nun aber, den 40. Geburtstag vor Augen, an Schnelligkeit, an Energie verloren hat. Breitbeinig wie immer steht Ronaldo da, bereit für ein Traumtor. Der Schuss aber landet in der Mauer.
Das passte zu dem Viertelfinale zwischen Frankreich und Portugal, das eigentlich nach Feinkost klang, stattdessen aber so mitreißend anmutete wie ein dröges Baguette mit angetrocknetem Schinken und Käse. Und das passte auch zu diesem Turnier, in dem viele große Nationen Sicherheit über Spektakel stellen, in dem die Superstars nicht super spielen, in dem an der Spitze der Torschützenliste der Name Eigentor steht.
Spanien als Kontrapunkt im EM-Halbfinale
Gründe? Gibt es viele. Die EM 2024 wird nach einer langen Saison ausgetragen. Jude Bellingham etwa, Englands Nummer 10, hat zugegeben, sich schwach zu fühlen. Auch lässt sich der Fußball der Nationalmannschaften kaum mit dem von Klubmannschaften vergleichen. Vereine, vor allem die Großen in Europa, können ihre Schwachstellen durch Transfers beheben, sie arbeiten fast ein ganzes Jahr zusammen, haben viel mehr Zeit, sich weiterzuentwickeln. Ein Nationaltrainer muss mit dem umgehen, was er vorfindet. Ihm bleiben vor einem Turnier nur wenige Wochen, um taktische Feinheiten einzuüben. Da kann es leichter sein, dem Gegner den Ball zu überlassen.
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Drei Nationen haben es ins Halbfinale geschafft, die das Zweckmäßige in den Vordergrund stellen, deren Fußball so viel Esprit versprüht wie eine Steuererklärung. Frankreich hat noch nicht ein eigenes Tor aus dem Spiel heraus geschossen. England hat manchmal Mühe, drei Pässe infolge an den Mann zu bringen. Selbst die Niederlande, früher bekannt dafür, dass ihre Spiele ein Abenteuer versprachen, stellen den Erfolg über Glanz. Nur Spanien setzt durch den Mut zum Ballbesitz und zu einem hohen Pressing unter den verbleibenden vier Mannschaften einen Kontrapunkt.
England kann bei der EM wütend machen - müde
Gefallen kann das der Europäischen Fußball-Union nicht. Die Europameisterschaft ist neben der Champions League das wichtigste Produkt der Uefa. Mitreißende Duelle lassen sich leichter vermarkten als Begegnungen, in denen vor allem zerstört wird. Zehn Eigentore sind bereits gefallen (bei der EM 2021 waren es am Ende sogar elf); diese müssen, schon klar, erzwungen werden. Ein Grund sind vermutlich die scharfen Halbfeldflanken vors gegnerische Tor, die sich nur mit Verrenkungen verteidigen lassen. Trotzdem übt ein Eigentor nie die Faszination eines richtigen Treffers aus.
Für mehr richtige Tore braucht es aber mehr Mut, mehr Angriffe, mehr Willen. Die Portugiesen waren sogar bereit, ihr spielerisches Potenzial zu schmälern, damit ihr Superstar Ronaldo nicht auf der Bank sitzen musste. Nach 120 Minuten ohne Tore schieden sie im Elfmeterschießen gegen Frankreich aus. Jenes Frankreich beschert jedem Fußballästheten seit Jahren graue Haare. Unter Trainer Didier Deschamps setzt die Elf vor allem auf Kontrolle und Zurückhaltung. Obwohl in diesem Kader so viel Potenzial schlummert.
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Das kann wütend machen. Müde. Wie die Auftritte Englands. Trainer Gareth Southgate hat Ausnahmeerscheinungen wie Bellingham, Harry Kane und Phil Foden in seinem Kader, aber ihr Spiel wirkt nicht aufeinander abgestimmt. Es wirkt hölzern, behäbig. Viel mehr Gääähn als Hurra.
Und dann fliegt Jude Bellingham durch die Luft
Natürlich dürfen sie alle so spielen und mit der Schulter zucken. Real Madrid gewinnt schließlich auch fast immer die Champions League, ohne den besten Fußball zu bieten. Deschamps hat es in zwei WM-Endspiele geschafft, Southgate in ein EM-Finale. Der Erfolg gibt ihnen recht. Wobei die Frage erlaubt sein muss, ob diese Erfolge wegen oder eher trotz dieser taktischen Herangehensweise gelungen sind. England etwa stand gegen die Slowakei schon vor dem Aus, musste sich gegen die Schweiz auf das Glück des Elfmeterschießens verlassen. Immer klappt das nicht.
Also abschalten? Nun ja. Das englische Spiel gegen die Slowakei zeigte zugleich, warum der Fußball als Produkt eben doch immer wieder funktioniert. Lange führte der Außenseiter, die englische Mannschaft mühte sich und man konnte sich angesichts dieses trostlosem Ballgeschiebes fragen, was man sonst noch so hätte machen können. Ein Buch lesen, die Rosen schneiden, das Bad putzen - bis auf einmal Jude Bellingham durch die Luft flog, den Ball mit dem rechten Fuß in die Ecke haute. Aus dem Nichts erschuf dieser leicht arrogante 21-Jährige einen schon jetzt legendären Moment. Und plötzlich hatte sich alles gelohnt.