München. Antoine Griezmann fiel im französischen System durch das Raster. In Spanien wurde er glücklich. Im Halbfinale trifft er auf sein Ausbildungsland.
Antoine Griezmann blickt auf eine große Karriere mit der französischen Nationalelf zurück. Der Angreifer von Atlético Madrid steht bei 134 Länderspielen, 44 Toren und dem Landesrekord von 38 Torvorlagen. Er war EM-Torschützenkönig beim Finaleinzug 2016, akzeptierte nach dem Durchbruch des jungen Kylian Mbappé aber klaglos eine zurückgezogenere Rolle und führte sein Land aus dem offensiven Mittelfeld zum WM-Titel 2018. Ja, es ist irgendwo sogar eine Auszeichnung für ihn, dass Frankreich bei dieser EM bislang so schwache Offensivstatistiken produziert. Den „Bleus“, so sehen es die Analysten, fehlt nicht nur ein Mbappé ohne Maske und Beschwerden. Sondern besonders ein Griezmann in gewohnter Form.
Bisher wird der 33-Jährige aus dem Burgund beim Turnier in Deutschland nicht glücklich. Als hängende Spitze hat ihn Nationaltrainer Didier Deschamps schon ausprobiert, als falsche Neun, als Rechtsaußen – doch bislang schreibt Griezmann nicht nur eine torlose Serie fort, die ihn in keinem der letzten elf Länderspiele treffen ließ und in nur zwei der letzten 33. Er hat auch noch kein Assist zu verzeichnen. Was andererseits kaum verwundern kann, wo Frankreich vor dem Halbfinale gegen Spanien bislang nur durch zwei Eigentore und einen Elfmeter von Mbappé erfolgreich war.
Griezmann: Karriere beruht auf Ausbildung in Spanien
Vor dem Match in München gibt es sogar Spekulationen, dass Deschamps einen seiner Schlüsselspieler wie schon im letzten Gruppenmatch gegen Polen beim Anpfiff auf die Bank beordern könnte. Es wäre ein Novum in einer so wichtigen Partie, denn kein anderer Profi spannt derart den Bogen über die zwölfjährige Amtszeit des Trainers. Zur WM 2014 berief Deschamps ihn erstmals, zwischen 2017 und März 2024 absolvierte Griezmann mal 84 Länderspiele am Stück. Zu seinen besten Zeiten, etwa bei der WM 2022, nannten ihn Experten wie der ehemalige Nationalstürmer Christophe Dugarry eine „Mischung aus Zidane und Platini“, also den Größten der Landesgeschichte.
Umso erstaunlicher ist, dass es Griezmanns Karriere ohne das Land des heutigen Gegners wohl gar nicht gegeben hätte. Zwar hatte er schon jung den Traum, Fußballprofi zu werden und auch genügend Talent, um bei den Spitzenklubs des Landes vorspielen zu dürfen. Aber dann wurde er immer wieder nach Hause geschickt, bei seinem Lieblingsklub Olympique Lyonnais, dem er auf den Tribünen des alten Stade Gerland im Trikot des brasilianischen Stürmers Sonny Anderson zusah – wie auch sonst überall. „Ich habe bei fast allen Vereinen der Ligue 1 ein Probetraining gemacht“, erzählte er mal, „und immer gaben sie mir dieselbe Antwort: Du bist zu klein.“
Doch als er mit 13 Jahren an einem Jugendturnier in Paris teilnahm, war auch ein Späher von Real Sociedad aus San Sebastián zugegen. Eric Olhats erinnerte sich später, wie ihn an dem jungen Antoine „vom ersten Moment an seine Technik überraschte, die Art und Weise seiner Ballberührungen“. Nach dem Turnier steckte er Grizemann einen Zettel zu und sagte ihm, er solle ihn später zuhause mit seinen Eltern lesen. „Möchtest Du bei Real Sociedad spielen?“, lautete die Frage darauf. Antoine wollte, nach einigem Überlegen stimmten auch die Eltern zu, und man entwarf einen Plan, wonach er bei Olhats im baskischen Bayonne wohnen und zur Schule gehen sollte, um täglich zum Training über die Grenze nach San Sebastián zu fahren. Bald begann er dort in der Jugend zu brillieren und gelangte so in die Nachwuchsauswahlen seines Heimatlandes.
Frankreich siebt Talente aufgrund athletischer Fähigkeiten aus
Griezmanns Werdegang steht für zwei Fußballkulturen, die trotz ihrer Nachbarschaft nicht gegensätzlicher sein könnten. Der Weg von Spanien und Frankreich ins Halbfinale war insofern kein Zufall, sondern allenfalls eine Zuspitzung. Spanien gilt als attraktivstes Team des Turniers und hat in fünf Spielen elf Tore geschossen. Frankreich steht einmalig kompakt und hat erst ein Gegentor bekommen, per Elfmeter.
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Solche Statistiken sind das Ergebnis von Taktik und Aufstellung – Spanien spielt mit nur einem „Sechser“, Rodri Hernández, Frankreich schirmt seine Abwehr dagegen mit einer „Dreier-Sechs“ aus N’Golo Kanté, Aurelién Tchouaméni und Adrien Rabiot (oder Eduardo Camavinga) ab. Sie schulden sich aber auch der Unterschiede in der Jugendförderung. Während in Spanien das größte Augenmerk auf die Technik gelegt wird, werden Talente nirgendwo sonst in Europa so nach ihren athletischen Voraussetzungen ausgesiebt wie in Frankreich. Nicht nur Griezmann, auch der heutige Dauerläufer N’Golo Kanté hat deshalb nie eine französische Akademie besucht und erst mit 23 in der Ligue 1 debütiert. Den Ausbildern war auch er: zu klein.