Essen/Düsseldorf/Hamburg. England und Frankreich sind ihren namhaften Kadern bei der EM 2024 noch nicht gerecht geworden. Mit erschreckenden Statistiken ins Halbfinale.
Langsam schritt Gareth Southgate auf die englische Fankurve zu. So richtig entschlossen wirkte der britische Nationaltrainer nach dem knappen England-Sieg gegen die Schweiz (6:4 nach Elfmeterschießen) nicht, als er die Arme in die Luft warf und die Seinen anfeuerte: Er rief ein paar Worte in Richtung Fans, ehe er sich sogar noch zu ein paar Tanzeinlagen mit seiner bereits feiernden Mannschaft hinreißen ließ. Es war nicht die große Show an diesem Viertelfinal-Abend in Düsseldorf. Aber das passt zu der Leistung seiner Mannschaft im gesamten Turnier.
Denn seit dem ersten Tag rumpeln sich die Engländer durch diese Europameisterschaft, anstatt mit ihrem hoch veranlagten Team die Massen zu begeistern. Gleiches gilt für Frankreich, die gar noch kein eigenes Tor aus dem Spiel heraus erzielt haben. Kylian Mbappé, Ousmane Dembélé, Antoine Griezmann: Sie alle blieben bisher blass und doch eint beide Großnationen das, was über weite Strecken begeisternd aufspielende Mannschaften wie Deutschland und die Schweiz verpasst haben: Sie stehen im EM-Halbfinale. Allein, wer auf dem Weg dorthin berauschenden Fußball zweier Turnierfavoriten erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht. Ist dieser brutale Minimalismus jetzt etwa das Mittel zum Erfolg?
EM 2024: England mit nur einem Sieg in der regulären Spielzeit im Halbfinale
Der Weg der Engländer führte durch eine Gruppe, in der zwei geschossene Tore für Platz eins reichten. Die mit Stars wie Harry Kane, Phil Foden, Bukayo Saka und Jude Bellingham gespickte Offensive darf sich vor allem dank Letzterem am Mittwoch, 10. Juli, 21 Uhr, noch einmal gegen die Niederlande zeigen. Denn Bellingham war es, der ein bis dahin verdientes Ausscheiden der Engländer im Achtelfinale gegen die Slowakei noch abwendete - per Fallrückzieher, in der fünften Minute der Nachspielzeit. Der später tanzende Southgate war bis dato gefühlt schon entlassen.
Stattdessen brachte Harry Kane die Three Lions in der Verlängerung auf die Siegerstraße - und drückte Southgate zurück in den Trainerstuhl. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass ein Ausscheiden des Weltranglisten-Fünften gegen den 45. durchaus verdient gewesen wäre. Zwar gab England 16 Torschüsse und damit drei mehr als die Slowaken ab, die Qualität lag jedoch eindeutig beim Gegner. Der Expected-Goals-Wert (misst, wie viele Tore eine Mannschaft angesichts der herausgespielten Chancen hätte schießen können) lag bei den Engländern bei 1,52, während die Slowaken auf 2,15 kamen.
Noch drastischer sah es im Viertelfinale gegen die Schweiz aus. Da liefen die Engländer ebenfalls einem Rückstand hinter her, den sie in der 80. Minute mit ihrem ersten Torschuss der Partie durch Saka ausglichen. Dass die Schweizer aus 1,47 expected Goals gegenüber Englands Wert von 0,62 nicht mehr gemacht haben, müssen sie sich am Ende ebenso ankreiden lassen, wie den verschossenen Elfmeter von Manuel Akanji, der auch dieses Spiel trotz dürftiger Leistung am Ende pro England entschied.
EM 2024: Frankreich mit nur drei erzielten Treffern unter den Top-Vier
„Bei Turnieren geht es darum, Spiele zu gewinnen“, sagte Kane im Anschluss. Das haben die Engländer in der regulären Spielzeit nur gegen Serbien geschafft. Mit fünf geschossenen Toren stellen die Three Lions derzeit eine mit Georgien geteilte fünftbeste Offensive des Turniers. Immerhin, denn um den zweiten vor dem Turnier so hoch gehandelten Favoriten zu finden, muss der geneigte Fan noch weiter unten schauen. Mit gerade einmal drei erzielten Treffern hat sich Frankreich unter die besten vier Teams gehievt. Die Torschützen: Österreichs Maximilian Wöber, Kylian Mbappé per Elfmeter und Belgiens Jan Verthongen. Ein eigenes Tor aus dem Spiel heraus? Fehlanzeige.
Genau wie England müssen sich auch die Franzosen während des gesamten Turniers den Vorwurf gefallen lassen, zu wenig aus ihrem hochdekorierten Kader zu machen. Ein Faktor ist sicherlich Kylian Mbappé, von dem im Angriff viel abhängt. Seit dem zweiten Gruppenspiel gegen die Niederlande (0:0) muss der 23-Jährige aufgrund eines Nasenbeinbruchs mit einer Maske spielen, die ihn sichtlich einschränkt. Eine Erklärung, wieso die Namen Ousmane Dembélé, Antoine Griezmann oder Marcus Thuram am Ende immer nur auf dem Aufstellungsbogen auftauchen, ist das trotzdem nicht.
In Sachen expected Goals lag das Team von Didier Deschamps bis zu seinem Viertelfinale gegen Portugal (0:0, 5:3 im Elfmeterschießen) zwar stets vorne, dennoch gaben die Auftritte Rätsel auf. Gegen Portugal waren es vor allem Torhüter Mike Maignan und der linke Pfosten, den João Félix im Elfmeterschießen anstelle des Tores traf, die das Weiterkommen sicherten. Den Esprit, das Spektakel, all das, was die so genialen Einzelkönner im französischen Team ausmacht, lassen sie im Kollektiv bei dieser Europameisterschaft dagegen vermissen.
EM 2024: Frankreich nutzt seine vielen Torschüsse nicht
Ganz anders die Spanier, die die Franzosen am Dienstag, 9. Juli, zum ersten Halbfinale in München erwarten. Gemeinsam mit Deutschland steht die Mannschaft von Luis de la Fuente für den krassen Gegenentwurf zur langweiligen Spielweise der Engländer und Franzosen. Mit elf Toren stellen beide Nationen den besten Angriff des Turniers, haben mit 102 (Spanien) und 94 (Deutschland) auch die meisten Schüsse abgegeben. Immerhin in dieser Statistik halten die Franzosen Schritt, haben sie doch selbst 89 Versuche vorzuweisen. Das Problem hierbei: Gerade einmal 21 Schüsse, und damit weniger als jeder vierte, kamen überhaupt auf das gegnerische Tor.
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England pendelt sich mit 57 Schüssen (15 aufs Tor) auf einem geteilten 13. Platz ein. Beide Schwergewichte haben bisher auf ihr Art und Weise enttäuscht und werden sich steigern müssen. Wobei viele Beobachter das schon seit der Gruppenphase sagen. Jetzt treffen mit Spanien und Frankreich zwei Extreme dieses Turniers aufeinander. Minimalismus gegen Hurra-Fußball. Die Frage, welcher Ansatz den Weg zum Erfolg ebnet, werden beide Teams am Dienstagabend fürs Erste beantworten. Bisher waren es am Ende immer wieder Deschamps und sein englisches Pendant Southgate, die tanzend vor der Kurve jubeln durften, und die Kritiker zumindest bis zum nächsten Spiel verstummen ließen.