Düsseldorf. England steht im Halbfinale der Fußball-EM - obwohl die Three Lions nur eine der vier Partien nach 90 Minuten gewonnen hatten.
Eine Trinkflasche hatte der englische Torwart Jordan Pickford mitgenommen, als das Elfmeterschießen begann. Er konzentrierte sich, bereitete sich vor. Als er die Flasche vor dem zweiten Schuss ergriff, schaute er auf einen aufgeklebten Spickzettel, sah in der achten Reihe den Namen des Schweizers Manuel Akanji. „Dive left“ stand hinter Akanjis Namen - „nach links abtauchen“. Pickford tauchte ab und hielt Akanjis Schuss, alle Schützen verwandelten - und England trifft nach einem 5:3-Sieg im Elfmeterschießen am Mittwoch (20.30 Uhr/ARD) in Dortmund im EM-Halbfinale auf die Niederlande.
England feiert Bukayo Saka
Die abermals dürftige Leistung über 120 Minuten im Viertelfinale am Samstag in Düsseldorf interessierte keinen englischen Fan mehr. Ob zu Hause, beim Public Viewing, im Pub, auf der Straße - oder im Stadion, während Spieler und Fans lautstark zu Sweet Caroline und Freed from desire über den Platz tanzten. So sieht Traumabewältigung aus. Bei großen Turnieren hatten die Engländer in den vergangenen Jahrzehnten sechs empfindliche Niederlagen im Elfmeterschießen erlitten - zwei gegen Deutschland im Halbfinale (1990, 1996), drei im Viertelfinale (2004, 2006, 2012) und zuletzt im Londoner Wembleystadion bei der EM 2021 gegen Italien im Endspiel.
Gareth Southgate, der wegen seiner defensiven Spielweise oft kritisierte englische Trainer, dessen Abgesänge zum Rauswurf mindestens vier Tage länger in den Schubladen bleiben, scheint immerhin einen Schwerpunkt im Training gesetzt zu haben: Elfmeter. Zum ersten Mal überhaupt verwandelten alle fünf englischen Schützen - einer sicherer als der andere. „Ich war auf der Bank ganz ruhig“, sagte der zu diesem Zeitpunkt ausgewechselte Kapitän Harry Kane. „Denn ich hatte sehr großes Vertrauen zu den Jungs. Ich wusste, dass wir bestens vorbereitet waren.“
Und auch Southgates Einwechslungen trugen zum beeindruckenden Elfmeterschießen bei. Jude Bellingham (schoss nach rechts unten) und Bukayo Saka (rechts unten) hatten die komplette Zeit auf dem Platz gestanden - nicht aber drei Joker: Cole Palmer (links unten), Ivan Toney (links unten) und Trent Alexander-Arnold (links oben). „Die Einwechselspieler hatten vielleicht zehn Ballkontakte, nehmen sich aber mit den Erwartungen des ganzen Landes auf dem Rücken den Ball - das ist schon sehr speziell“, lobte Bellingham.
Auch wenn Alexander-Arnold zum 5:3 verwandelte und neben Pickford der gefeierte Mann des Shootouts war, feierten die Spieler vor allem Saka. Der 22 Jahre alte Rechtsaußen vom FC Arsenal hatte nicht nur in der 80. Minute den durch Breel Embolo erzielten Rückstand (75.) ausgeglichen. Sondern er war der entscheidende Fehlschütze im Finale der EM 2021, anschließend hatte es rassistische Beleidigungen gegeben. Diesmal blieb er cool, wurde zum Spieler des Spiels ernannt. „Das war sehr heldenhaft, denn wir wissen alle, durch was für ein Tal er gehen musste. Er ist einer unserer besten Spieler“, schwärmte Trainer Southgate. Saka selbst ließ die Gelegenheit aus, für große Sprüche zu sorgen: „Man scheitert einmal, aber ich bringe mich gern wieder in diese Situation. Ich habe die Ruhe bewahrt.“
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Die Engländer stehen nach dem Elfmeter-Krimi tatsächlich in der Runde der letzten Vier - trotz schlechter Leistungen, dank viel Matchglück und einer günstigen Auslosung. Die Gegner in den ersten fünf EM-Spielen gehören nicht zur A-Klasse Europas (Serbien, Dänemark, Slowenien, Slowakei, Schweiz) - und dennoch entschieden die Three Lions nur das erste gegen Serbien (1:0) nach 90 Minuten für sich. Alle anderen Spiele endeten nach regulärer Spielzeit mit einem Unentschieden. Auch wenn Southgate „die beste Leistung“ seines Teams gegen die Schweiz sah: Sie war abermals uninspiriert, langsam, zu defensivorientiert.
England-Trainer Southgate lässt Kritik nicht gelten
Southgate lässt die Kritik nicht gelten. „In Turnieren geht es nicht nur darum, gut zu spielen. Du musst weitere Attribute zeigen, um zu gewinnen. Das haben wir geschafft“, sagte er und spielte vor allem darauf an, dass seine Mannschaft wie schon im Achtelfinale gegen die Slowakei (2:1 nach Verlängerung) spät einen Rückstand noch aufholte. „Das wieder zu schaffen, zeigt den Charakter und die Widerstandsfähigkeit unseres Teams.“ Harry Kanes EM-Ansatz klingt ähnlich nüchtern: „Bei Turnieren geht es darum, Spiele zu gewinnen.“ England 2024: kaum anzuschauen, aber pragmatisch, glücklich - eine Turniermannschaft.
Und da sie jetzt auch Elfmeter schießen können, denken nun auch die Engländer, dass sie tatsächlich den ersten Titel seit 1966 feiern können. „Tage wie dieser“, sagte Bellingham, „werden noch spezieller im Rückblick, wenn wir am Ende feiern können.“ Zwei Siege fehlen noch.