Leipzig. Der türkische Doppeltorschütze Merih Demiral verteidigt seinen Wolfsgruß an die Fans. Ein EM-Skandal, der nach Konsequenzen ruft.
Merih Demiral hatte lange auf sich warten lassen. Der Presseraum der Leipziger Arena hatte sich weitgehend gelehrt, als die Hauptperson eines hochdramatischen Achtelfinals weit nach Mitternacht das Podium bestieg. Fröhlich grinsend bot der Doppeltorschütze der Türkei gegen Österreich (2:1) an, dass er auch auf Englisch reden könne. Was nicht nötig war, da einem „Man of the match“ gleich mehrere Dolmetscher assistieren. Wer den 26-Jährigen zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, hätte den Eindruck gewinnen können, dass hier ein Fußballer mit guten Umgangsformen auftritt. Doch eher kam ein Wolf im Schafspelz zum Vorschein.
Weil der Verteidiger nach seinem wuchtigen Kopfstoß zum 2:0 mit beiden Händen das Handzeichen und Symbol der „Grauen Wölfe“ formte, weitet sich der frenetisch bejubelte, von Bierbecher- und Münzwürfen untermalte sportliche Erfolg zum Skandal aus. Denn der „Wolfsgruß“ führt auf die Anhänger der rechtsextremistischen „Ülkücü-Bewegung“, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird und in Frankreich oder Österreich beispielsweise längst verboten ist.
Wolfsgruß bei der EM 2024: Merih Demiral ist sich keiner Schuld bewusst
Demiral allerdings mimte das Unschuldslamm. „Natürlich bin ich sehr glücklich, dass ich zwei Tore geschossen habe. Wie ich gefeiert habe, hat etwas mit meiner türkischen Identität zu tun. Ich habe Leute im Stadion gesehen, die auch diese Geste gemacht haben.“ Diese Handzeichen sind nicht das erste Mal bei einem türkischen Länderspiel aufgetaucht: In der Türkei ist die ultranationalistische MHP ihre politische Vertretung und Bündnispartnerin der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der sogleich „viel Erfolg auf dem Weg zum Titel wünschte“. Den möglichen Halbfinaleinzug der Türkei wie bei der EM 2008 will Erdogan natürlich für sich vereinnahmen.
Der Bundesverfassungsschutz hat festgestellt, dass die Ideologie der „Grauen Wölfe“ auf einer nationalistischen, antisemitischen und rassistischen rechtsextremistischen Ideologie basiere. Auf Nachfrage bekräftigte Demiral, dass er am liebsten auch im Viertelfinale gegen die Niederlande (Samstag 21 Uhr) so jubeln möchte. „Ich hoffe, ich werde noch mehr Gelegenheiten haben, diese Geste zu machen. Es gibt keine versteckte Botschaft.“ Das klang fast schon dreist.
Uefa leitet Verfahren gegen Merih Demiral ein
Die Europäische Fußball-Union (Uefa) leitete am Tag danach ein Untersuchungsverfahren ein: Es gehe dabei um ein „mutmaßlich unangemessenes Verhalten“. Auch wegen der Aussagen auf einer offiziellen Uefa-Pressekonferenz kann die Dachorganisation eigentlich gar nicht anders, als den türkischen Nationalspieler zu sperren, der ein Foto seiner unzweideutigen Geste zudem auf der Plattform X postete. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser äußerte sich auf diesem Weg: „Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen.“ Das Turnier „als Plattform für Rassismus“ zu nutzen, sei „völlig inakzeptabel“.
Die Furcht besteht, dass das mit einer riesigen türkischen Fankolonie gefüllte Berliner Olympiastadion am Samstag gleich wieder zum Schauplatz rechtsextremer Symbolik wird. Das gab es in der Geschichte leider bei einem anderen Sportereignis schon mal. Der bei Fenerbahçe Istanbul ausgebildete, nach sechs Jahren in Portugal und Italien inzwischen in Saudi-Arabien bei Al-Ahli kickende Demiral hat bewusst gehandelt. Gut möglich, dass der Sohn eines Betonbauers, früh Halbwaise geworden und heute mit einem albanischen Model verheiratet, von vielen Landsleuten und der MHP zum Märtyrer gemacht wird, wenn die Uefa ihn aus dem Verkehr zieht. Der albanische Nationalstürmer Mirlind Daku wurde für zwei EM-Partien gesperrt, weil er nach dem Kroatien-Spiel in Hamburg nationalistische Gesänge angestimmt hatte.
Türkei droht Schwächung im EM-Viertelfinale
Der Fall Demiral wiegt schwerer. Neben Menschenrechtsaktivisten zeigte sich auch die Gesellschaft für bedrohte Völker entsetzt. „Am Jahrestag des Sivas-Massakers so prominent den Wolfsgruß zu zeigen, ist ein absoluter Skandal“, sagte der GfbV-Nahostreferent Kamal Sido. Vor 30 Jahren hatte ein islamistischer Mob ein Hotel im Stadtzentrum von Sivas in Brand gesteckt, in dem sich alevitische Schriftsteller, Sänger und Intellektuelle aufhielten. 27 Menschen starben. „Die türkische Nationalmannschaft muss sich öffentlich vom Zeigen des rechtsextremen Symbols distanzieren.“ Fraglich, ob sie das tut.
Pressesprecher Türker Tozar blickte bei dem Thema ziemlich gelangweilt drein. Nationaltrainer Vincenzo Montella schwärmte lieber über Wechselspiel zwischen den Fans auf den Rängen und den Akteuren auf dem Rasen. „Diese Liebe ist unglaublich“, flötete der Italiener. „Ich freue mich, dass wir den türkischen Fans in Deutschland so viel Freude schenken. Mit der Unterstützung fühlen wir uns ganz stark.“ Doch nun droht die Schwächung am grünen Tisch. Der als Spaltpilz jubelnde Matchwinner Demiral verabschiedete sich übrigens mit einem Augenzwinkern bei einem türkischen Reporter. Ihm zeigte er zwei gehobene Daumen. Es könnte seine letzte Botschaft von einer EM gewesen sein, die nun auch in ein sportpolitisches Minenfeld gelangt ist.