Gelsenkirchen. Jude Bellingham gehört zu den besten Fußballern der Welt, und zeigte das am Sonntagabend. Doch der englische EM-Star ist umstritten.

Eigentlich schrieb Paul McCartney den Song „Hey Jude“ für Julian Lennon, den Sohn seines einstigen Beatles-Kollegen John. Doch spätestens nach dieser Europameisterschaft hat der Refrain des Songs in England eine weitere Bedeutung. Wenn immer Jude Bellingham Wunderdinge vollbringt für die Nationalmannschaft, singen die Fans der Three Lions minutenlang wie im Rausch den Hit. So wie am Sonntagabend, als Bellingham mit einem perfekten Fallrückzieher-Tor in der fünften Minute der Nachspielzeit maßgeblichen Anteil am 2:1-Sieg gegen die Slowakei hatte und sein Team ins EM-Viertelfinale beförderte.

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Dieses Tor war so wundervoll, dass es Fußballfans weltweit feierten - und auf der Insel ganz besonders. „Darum ist er ein Superstar“, schwärmte der langjährige England-Torjäger Gary Lineker, heute renommierter TV-Experte. Die Teamkollegen redeten viel lieber über jungen EM-Star als über die eigene, erneut dürftige Leistung. Vier schlechte Spiele - und trotzdem noch im Rennen: England hat sich gegen die europäische B-Klasse (Serbien, Dänemark, Slowenien, Slowakei) durchgemogelt und entwickelt sich zu einer Turniermannschaft wie jahrzehntelang Deutschland. Und das mit Heldenfußball, mit Bellingham eben. „Das war eines der besten Tore in der Geschichte unseres Landes. Er arbeitet so hart für das Team, er hat uns bei dieser EM am Leben gehalten. In den großen Momenten liefert er“, lobte Kapitän Harry Kane, später Schütze des Siegtores. Eines der besten Tore in der Geschichte - drunter geht’s nicht mehr bei Bellingham.

Uefa-Ethikkommission ermittelt nach obszöner Geste

Es ist schwer zu glauben, dass der 1,86 Meter große Mittelfeldspieler gerade erst seinen 21. Geburtstag gefeiert hat. Meister ist er mit Real Madrid geworden, hat die Champions League gewonnen. „Er hat einen unglaublichen Einfluss, obwohl er noch ein junger Mann ist“, sagte Trainer Gareth Southgate. Niemand zweifelt, dass Bellingham demnächst auch Weltfußballer werden kann. Alles so eindeutig?

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Ein Zaubertor: Jude Bellingham trifft für England. © IMAGO/Beautiful Sports | IMAGO/BEAUTIFUL SPORTS/Meusel

Auf keinen Fall. Bellingham gehört nicht nur zu den talentiertesten und sportlich besten, sondern auch zu den umstrittensten Profis der EM. Er hat viele Fans, aber auch viele Gegner - er ist einer, der von den Fans seines aktuellen Teams gefeiert wird, aber von den Gegnern ausgepfiffen. Wegen unfairer Aktionen, weil er austeilt, aber schwer einstecken kann. Und wegen Gesten wie der unmittelbar nach seinem Zaubertor. Als er an der slowakischen Bank vorbeilief, ließ er sich zu einer Obszönität hinreißen, zu einem Griff in den Schritt. Respektlos? „Das war ein Insider in Richtung ein paar meiner Freunde, die im Stadion waren. Nichts als Respekt für die Slowakei und wie sie gespielt hat“, schrieb er in den Sozialen Netzwerken. Die Uefa-Ethikkommission leitete trotzdem Ermittlungen ein, eine Sperre droht.

Es war eine von vielen kleinen Entgleisungen des Wunderknaben in der jüngeren Vergangenheit. Vor dem Vorrundenspiel gegen Slowenien (0:0) schnürte er sich die Schuhe, während die Hymne des Gegners gespielt wurde. Zu Dortmunder Zeiten kritisierte BVB-Kapitän Emre Can den berühmten Mitspieler für dessen mangelhafte Körpersprache. Es kommt häufiger vor, dass Bellingham Mitspieler beleidigt. Einer wie er ist genial - aber auch launisch, theatralisch, egoistisch, arrogant.

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Und meinungsstark. Soeben war er zum „Man of the match“ ausgezeichnet worden, da nahm sich Bellingham die englischen Medien und die Anhänger vor. „Rubbish“ sei das, was in England erzählt würde - übersetzt: Müll. „Für England zu spielen ist schön, aber auch belastend“, sagte er. Die Fans nahm er sich für ihre hohe Erwartungshaltung zur Brust. „Der Druck ist enorm hoch, die Fans erwarten viel, die Leute reden viel“, ergänzte er.

„Du bist 30 Sekunden davon entfernt, nach Hause zu fahren.“

Jude Bellingham
England-Torschütze

Jude Bellingham rettet England vor einer EM-Blamage

Aber solange er solche grandiosen Momente liefert, wird ihm auf der Insel fast alles verziehen - und andere Zitate rücken in den Vordergrund. Zum Beispiel wie er über die Sekunden vor dem Fallrückzieher redete: „Du bist 30 Sekunden davon entfernt, nach Hause zu fahren und das Gefühl zu haben, eine ganze Nation im Stich gelassen zu haben. Und in 30 Sekunden und mit einem Schuss kann sich alles ändern.“ Er hätte ihn längst auswechseln müssen, sagte Trainer Southgate. Schon eine Viertelstunde vor Schluss hätte Bellingham kaum noch stehen können. „Er sorgt für solche Szenen, auch wenn die Leute nach weiteren Wechseln schreien“, sagte Southgate.

Ein frühes und peinliches EM-Aus wendeten die Engländer soeben noch ab. Nächster Gegner ist die Schweiz am 6. Juli. „Wir haben Charakter gezeigt. Das kann uns für den weiteren Verlauf des Turniers sehr helfen“, sagte Bellingham. „Hey Jude“ als englische Titelhymne? Unmöglich ist nichts.