Hagen. Mit einem neuen Theater-Format nähert sich das Lutz in Hagen den Themen Antisemitismus und Erinnerung. Warum das Publikum mitspielt.

Wie erinnert man im Schatten der aktuellen, polarisierten Debatte über Israel nach dem Hamas-Attentat an den Holocaust? Wie erläutert man jungen Menschen, warum Juden vor 80 Jahren vernichtet wurden, während „Jude“ wieder ein Schimpfwort ist? Dieser Herausforderung stellt sich die Junge Bühne Lutz des Theaters Hagen mit der Gedenkwoche „Aus dem Dunkeln ein Licht“ vom 2. bis 10. November. Im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe steht ein neues Theaterformat. In dem Stück „Fotoalbum“ wird die traditionelle Trennung zwischen Publikum und Schauspielern aufgehoben. Gemeinsam folgen alle Beteiligten den Erinnerungsspuren dreier befreundeter Schulkinder, die 1938 im Wiener Prater beim 9. Geburtstag des Jungen Leo in einer Riesenrad-Gondel fotografiert werden. Zwei der Freunde sind Juden.

Zur Zielgruppe des Hagener Lutz gehören Schulklassen, in denen viele Jungen und Mädchen daheim nie vom Holocaust erfahren haben und bei denen viele Eltern aus unterschiedlichen Motiven antisemitische Vorurteile pflegen. Für die Lehrerinnen und Lehrer ist das eine schwierige Situation. Genau diesen Konflikt nimmt „Fotoalbum“ zum Ausgangspunkt für Fragen: Wie mächtig sind Bilder? Wem vertraue ich mehr, meinen Eltern oder meinen Freunden? Liz Kesslers preisgekrönter Jugendroman „Als die Welt uns gehörte“ bildet das erzählerische Rückgrat der Performance. Immer wieder springt das Stück in andere Zeitebenen, auch in die Gegenwart. Die Besucher können eigene Erfahrungen schildern und anhand von Fragen überlegen, wie sie sich in einer bestimmten Situation selbst verhalten würden. Zwei Erinnerungsbegleiterinnen moderieren den Ablauf.

Fotoalbum / Lutz/ Theater Hagen
Masha Shafit und Felix Zimmermann in dem Mitmach-Theaterstück „Fotoalbum“ im Lutz des Theaters Hagen. Es geht um die Macht der Bilder und darum, wem man mehr vertraut, den Eltern oder den Freunden. © Leszek Januszewski / Theater hagen | Leszek Januszewski / Theater hagen

Die Bühne ist mit Feldbetten möbliert, auf denen die Darsteller und das Publikum zwischen den Umgängen sitzen. Auf solchen Klappbetten mussten die Juden in den Vernichtungslagern der Nazis schlafen, sie kommen auch in heutigen Flüchtlingsunterkünften zum Einsatz, aber auch bei schönen Ereignissen wie Festivals.  Dazwischen gibt es alte Koffer. Und Kleidung mit den Fotos von realen jüdischen Hagener Bürgerinnen und Bürgern, die von den Nazis ermordet wurden. Den Hintergrund bildet eine Tafelwand mit Graffiti, auf der Elsa und Leo aufschreiben, was sie nicht mehr dürfen und an welche guten Dinge sie sich erinnern möchten. Die Projektion der historischen Halle des Wiener Nordbahnhofs überschattet den Raum als Sinnbild für Vertreibung, Flucht und Transit. Von hier aus konnte Leo mit seiner Mutter nach England emigrieren und überleben. Von diesem Ort floh Elsa in die Tschechoslowakei, was sich als die falsche Richtung erwies; später wird sie nach Auschwitz deportiert. Und von diesem Ort reiste Max mit seinem Vater nach München, der dort als SS-Obersturmführer eingesetzt wird. Der Vater arbeitet später als SS-Mann in Auschwitz und nimmt Max mit.  

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Die Darsteller Masha Shafit und Felix Zimmermann spielen die drei Freunde Elsa, Leo und Max mit großer Intensität. Die Wechsel von den historischen zu den zeitgenössischen Protagonisten funktionieren, ohne dass die Spannung abbricht. Es ist ein sehr intimes Spiel zwischen Vorlesen und Darstellen, das aber immer als Aufführung erkennbar bleibt und der Komplexität der Spurensuche gerecht wird. Das ist eine faszinierende Erfahrung für Besucher, die noch nicht oft im Theater waren.

Ohne Zeigefinger

So wird deutlich, dass sich die Welt nicht mit dem Zeigefinger erklären lässt. Max‘ Vater hält alle Juden für minderwertige Schweine, aber die besten Freunde von Max, Leo und Elsa sind doch Juden. Wie soll er mit dem Druck des Vaters umgehen? Es kommt zu sehr bedrückenden Szenen, als offenbar wird, dass der Vater die Post Leos unterschlagen hat und Max zwingt, das kostbare Riesenrad-Foto und die ungelesenen Briefe zu verbrennen.

In der Jetzt-Zeitebene wird deutlich, wie rechte Gruppierungen auf Instagram oder Tiktok um junge Leute werben. Die traurigste Szene ist eine Modenschau, in der einige der ermordeten und verfolgten jüdischen Hagener und Hagenerinnen wieder ein Gesicht und eine Stimme erhalten: die Familie Goldschmidt, Heinz-Egon Laser, Katharina Schlüter, Alex Schlüter, ihre euthanasierte Tochter und Karl Friedrich Schreiber. Auch die Hagener Sopranistin Monica Schanzer unterstützt das Stück mit Erinnerungen und dem Lied „Over The Rainbow“ für die Audiocollage. Ihr Vater überlebte den Holocaust dank eines ähnlichen Zufalls wie Leo.

Fluchtgeschichten des Publikums

Das 80 Minuten lange Stück ist darauf angelegt, dass die Zuschauer sich hinterher austauschen. „Dann können auch die eigenen Fluchtgeschichten des Publikums zu Wort kommen“, sagt Regisseurin Anja Schöne, die Leiterin der Jungen Bühne Lutz. „Die Erfahrungen damit sind ganz unterschiedlich. Manche reden gerne und viel darüber, mache können nicht darüber sprechen.“

Wie das experimentelle Format ankommt, wird vom Lutz-Team mit Spannung erwartet. Anja Schöne: „Wir wollten das Thema relativ niederschwellig ansprechen, mit Elementen zum Mitmachen. Deshalb wird das Publikum jetzt Teil der Handlung.“

In Auschwitz soll Max seine frühere Freundin Elsa erschießen. Das kann er nicht. Also tötet ein anderer Wachmann das Mädchen. Max steht dabei im Weg und wird zufällig von einer Kugel getroffen. Leo überlebt. Dank eines Zufalls. Damals beim 9. Geburtstag in der Gondel des Riesenrades hatte er ein Ehepaar aus England angerempelt, sie kamen ins Gespräch. Diese Familie erteilte später die Bürgschaft, dank derer Leo und seine Mutter emigrieren durften.

Aus dem Dunkeln ein Licht

Fotoalbum wird für Zuschauer ab 13 Jahren empfohlen. Die Uraufführung ist am Samstag, 2. November, um 18 Uhr im Lutz des Theaters Hagen. Der Eintritt ist frei. Bei der Gedenkwoche „Aus dem Dunkeln ein Licht“ wird vom 2. bis 10. November im Lutz des Theaters Hagen auch das Stück „Der Trafikant“ angeboten. Dazu kommen Konzerte und Lesungen. Zum Abschluss erklingt am 10. November um 18 Uhr im Großen Haus des Theaters das philharmonische Gedenkkonzert „Gegen das Vergessen“. Zusätzlich werden kostenlos Workshops und Gesprächsformate zu den Themen Antisemitismus, Prävention, Demokratieförderung und Erinnerungskultur für Schulklassen angeboten. Kontakt: lutz@theaterhagen.de

Alle Termine: www.theaterhagen.de