Hagen. Die Ballett-Premiere am Theater Hagen amüsiert das Publikum und lässt viele Fragen offen. Zum Beispiel, warum Männer nie etwas finden.

Frau und Mann küssen sich berührungslos, denn ihre Köpfe sind mit Tüchern umwickelt. Zu sehen ist dieser Widerspruch in Rene Magrittes Gemälde „Die Liebenden“, einem Werk von unerschöpflicher Faszination. Der Hagener Chefchoreograph Francesco Nappa vertanzt das Bild jetzt – als Teil des neuen dreiteiligen Ballettabends „Interactions“ am Theater Hagen. Die schlecht besuchte Premiere wurde mit lautem Beifall im Stehen gefeiert.

Ballett Abend Interactions Theater Hagen
Szene aus Les Amants Voilés am Theater Hagen mit Hannah Law und Antoine Luc Koutchouk Charbonneau. © Leszek Januszewski / Theater hagen | Leszek Januszewski / Theater hagen

Unter dem Titel „Interaktionen“ bindet die Ballett-Produktion drei sehr unterschiedliche Kreationen von drei Choreographinnen und Choreographen zusammen. Francesco Nappas „Les Amants Voilés“ macht den Anfang. Für die ausgesprochen reizvolle Idee, Kunst zu vertanzen, kombiniert er das Verhüllungs-Motiv des Surrealisten Magritte mit der gestisch-expressiven Maltechnik von Jackson Pollock.

Die Liebenden werden tatsächlich androgyn aus Farbimpulsen geboren, bevor sie sich im roten Kleid und Anzug in Mann und Frau separieren und der Verschleierung entgegenstreben. Leider erschließen sich diese Zusammenhänge nur durch das Programmheft. Aber auch, wer nicht um die Kunst-Impulse der Choreographie weiß, erlebt einen exquisit getanzten Pas de deux, den Hannah Law und Antoine Luc Koutchouk Charbonneau federleicht und mit fantastischen Sprung- und Hebefiguren zu einer poetischen Miniatur von Annäherung und Sehnsucht gestalten.

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Diesem intimen Duett steht mit „The Longlongneverending“ ein Gruppenstück gegenüber, in dem die Choreographin Emilie Leriche Zufallsbegegnungen in der U-Bahn untersucht und tänzerisch-theatralisch weiterdenkt. Die Bühne erinnert ebenfalls an Malerei – sie etabliert einen Jackson-Pollock-Raum: einen U-Bahn Vierersitz, in dem ein Tänzer zu kratzigen Grammophon-Klängen an diesem öffentlichen Ort in absoluter Einsamkeit versunken zu sein scheint.

In mehreren Szenen kommen Mitreisende dazu, verschwinden wieder, und immer wieder ruckelt die Musik, dann wölbt sich die Zeit und die zufällige Reisegemeinschaft verknäuelt sich im zwischenmenschlichen Näherkommen zu immer neuen Konstellationen. Irgendwie und möglicherweise unfreiwillig ist daraus auch ein Ballett für Fußfetischisten geworden. Denn die Tänzerinnen und Tänzer agieren sehr viel kriechend, robbend und rollend auf dem Boden und strecken überaus häufig ihre Beine mit den zweifarbigen Spectator-Schuhen in die Luft, wie sie in der Grammophon-Ära in Mode waren. Auch hier tanzt die Compagnie virtuos, allerdings wird der Titel „The Longlogneverending“ Programm, denn die Kreation zieht sich doch reichlich.

Handbuch der guten Ehe

Der dritte Programmteil interpretiert das Stichwort „Interaktionen“ dann auf eine Weise, die für das Hagener Publikum neu ist und mit großer Begeisterung gefeiert wird. Der Choreograph Lukás Timulak parodiert in „Masculine / Feminine“ Ratgeber wie „Das Handbuch der guten Ehe“ aus den 1950er Jahren. Die Bühne wirkt wie eine Buchillustration, darin werden in zweimal vier Kapiteln entscheidende Überlebensfaktoren des Ehelebens jeweils aus weiblicher und männlicher Sicht beleuchtet, vom Multitasking über das Nörgeln bis zum Umgang mit Schwiegermüttern.

Die einzelnen Szenen werden durch auf den Punkt zugespitzte Texte erläutert; die hinreißend getanzten Miniaturen sind außerordentlich klug choreographiert. Denn sie spiegeln die genaue Beobachtung all jener kleinen Alltags-Angewohnheiten, mit denen sich Partner gegenseitig auf den Geist gehen können oder sich zur Weißglut treiben. Der Mann, der trotz gutem Orientierungssinn nichts findet, die Frau, die sich in einem immerwährenden Vergleich mit ihren Geschlechtsgenossinnen sieht, der Mann, der mit seiner Schwiegermutter seit Monaten kein Wort gewechselt hat, weil er sie nicht unterbrechen will, die Frau, die 8000 Wörter täglich produziert, wohingegen dem Mann nur maximal 4000 gegeben sind, so dass ihm nichts mehr zu sagen übrig bleibt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt: Sie alle werden von Lukás Timulak nicht vorgeführt, sondern mit großer Zuneigung und Herzenswärme charakterisiert und von den wechselnden Solistinnen und Solisten mit Hingabe getanzt. Der Stich Selbsterkenntnis darin provoziert gutes und ehrliches Lachen.

Der vielleicht schönste und treffendste Moment ereignet sich im ersten Bild, das eine Jedefrau vorstellt, die Kinder wickeln, Bügeln, Telefonieren, und an der Börse spekulieren gleichzeitig kann. Yu-Hsuan (Mia) Hsu tanzt diese Alltagsheldin mit den Superkräften. Und noch während sie abtritt, lässt sie schnell den Finger prüfend über die Kommoden-Konsole gleiten. Kein Staub. Alles im Griff.

Ballett-Premieren waren am Theater Hagen lange Jahre zuverlässig ausverkauft. Das ist jetzt vorbei. Ein Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass es keinen Ballettdirektor mehr gibt, der in der Stadt Hagen  und im Umland präsent und bekannt ist,  und der das Profil der Compagnie prägt. Francesco Nappa ist ja Chefchoreograph, nicht Direktor und trotz guter Arbeit noch weitgehend unbekannt.   

Wieder am 11. Oktober, 3., 8., 13. 21. November, 1., 28. Dezember, 19. Januar, 19. Februar. www.theaterhagen.de