Hagen. Homers „Odyssee“ ist aktueller denn je. Warum das Lutz in Hagen ein Stück über junge Leute auf der Suche nach dem Ankommen erzählt.

Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle,
Meine Mutter, mein Vater, und alle meine Gesellen.
(Homer, Odyssee)

Über 40 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren weltweit sind auf der Flucht. Einige von ihnen kommen bei uns an – und bleiben dennoch namenlos, werden allenfalls zu einer Zahl in der Statistik, als Opfer oder als Täter. Die Junge Bühne Lutz in Hagen gibt diesen heutigen Niemanden jetzt eine Stimme und ein Gesicht. Regisseurin Anja Schöne und ihr Team befragen Homers „Odyssee“ nach ihrem Gehalt für die Irrfahrten unseres Zeitalters.

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Das multifunktionale Bühnenelement von Sabine Kreiter ist Treppenhaus und Labyrinth zugleich. Denn das Lutz verlegt „Eine Odyssee“ in eine Schule. Hier verliert die Schülerin Feli die Orientierung über ihr Leben, nachdem ihre Mutter die Familie verließ und sich Stimmen in ihrem Spind eingenistet haben. Hier startet der Schüler Zayn, der sich Niemand nennt, seine Operation Poseidon, bei der er herausfinden will, wer es ihm unmöglich macht, in der neuen Heimat anzukommen. Poseidon war der Gott, der Odysseus und sein Schiff nicht nach Hause segeln ließ, sondern über die Meere schickte.

Szene aus „Eine Odyssee“ nach Homer von Anja Schöne in der Jungen Bühne Lutz des Theaters Hagen  mit v.l.: Tatiana Feldman, Jas Abbas, Björn Lukas und Ayla Pechtl
Szene aus „Eine Odyssee“ nach Homer von Anja Schöne in der Jungen Bühne Lutz des Theaters Hagen mit v.l.: Tatiana Feldman, Jas Abbas, Björn Lukas und Ayla Pechtl © Leszek Januszewski / Theater hagen | Leszek Januszewski / Theater hagen

Die Wege der Jugendlichen kreuzen sich mit denen der Erwachsenen, einer Referendarin mit dem schönen Namen Anastasia Spock und dem Hausmeister Tomek, sozial ebenfalls unsichtbar, der die Trümmer der gescheiterten Biographien um ihn herum mit Pömpel und Apfelschnitzen zu heilen versucht.

Niemanden eine Stimme geben

Anders als in sonstigen Stücken bezieht das Lutz in „Eine Odyssee“ dezidiert Position, und zwar für die jungen Menschen, die unter so vielen Gefahren und Schwierigkeiten versuchen, Sicherheit zu finden, meistens um den Preis der Kindheit. Immer wieder wird die Handlung auf der Bühne ergänzt um die Stimmen und Videobilder aus dem Spind, Aussagen von realen Hagener Jugendlichen über das Ankommen und nicht heimisch werden, über die Angst, über die Einsamkeit und über die Überforderung. „Ich kann nirgendwohin, ohne dass die Leute denken, dass ich ein Problem bin, dass ich ein Problem verursache“, sagt ein Junge.

Das Stück ist ideal geeignet für Zuschauer, welche die Bücher von Rick Riordan mögen, der in seinen Bestsellern ebenfalls Schulalltag und antike Mythologie verknüpft. Die beängstigenden Flure auf der Bühne führen zu magischen Pforten in die antike Anderswelt. Dort zeigt sich, dass in allen Protagonisten mehr steckt als vermutet. Die schüchterne Referendarin kann zur Herrin der Sturmwinde werden und der stille Hausmeister zum Meeresgott. Feli und Zayn bestehen die Abenteuer des Odysseus bei den Sirenen, den Kyklopen, den Lotosessern und auf der Insel der betörenden Zauberin Circe.

Über wen werden denn eigentlich Geschichten erzählt? Das ist die Frage, mit der wir uns beschäftigen.
Anja Schöne

Der antike Atlas trug das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern. Das Gefühl kennen die Jugendlichen. Anja Schöne hat in ihren Gesprächen erfahren, wie das ist. „Diese Kinder müssen alles regeln, morgens bringen sie das jüngere Geschwisterchen zur Schule, dann sitzen sie den Vormittag mit den Eltern auf dem Amt und helfen beim Ausfüllen der endlosen Formulare, weil sie schneller Deutsch lernen als die Eltern.“ Die Theaterleiterin erkennt ein zunehmendes Bedürfnis nach Geschichten, die gut ausgehen. Da passt die Neubefragung der Klassiker der Weltliteratur gut. „Grundsätzlich fühlt sich Jugend wie eine Irrfahrt an, ein Grundzustand der Orientierungslosigkeit. Über wen werden denn eigentlich Geschichten erzählt? Das ist die Frage, mit der wir uns beschäftigen.“

Die doppelte Odyssee auf der Bühne wird zu einem Emanzipationsprozess. Denn die Handelnden müssen sich ihren Ängsten stellen, das ist schwer und tut weh. Und sie müssen ihr Misstrauen überwinden und sich gegenseitig helfen, das ist noch viel schwerer. Dramaturgin Anne Schröder ergänzt: „Es geht um die Prüfungssituation, in der Odysseus ist, aber auch um die Frage nach dem Helden. Odysseus schafft es ja nur, weil ihm immer jemand hilft.“

Trotz des komplexen Stoffes ist die Hagener Inszenierung ausgesprochen spannend und gewinnt eine berührende Poesie und Leichtigkeit. Das liegt an der Professionalität und der Herzenswärme, mit der das zauberhafte Ensemble spielt und tanzt: Jas Abbas, Tatiana Feldman, Björn Lukas und Ayla Pechtl. Die Videozitate stammen von Adea, Almir, Amir, Burak, Davide, Delshad, Dioba, Emily, Lisa, Shahir und Zina.

Am Ende gibt es Hoffnung. Die willkürlich anmutenden Werkstücke des Hausmeisters, Rohrteile, eine Plane, fügen sich zu einem Unterschlupf zusammen, einem kleinen Schutzraum, einer winzigen Insel der Geborgenheit.

Das Stück „Eine Odyssee“ nach dem Epos von Homer wird am Samstag, 24. Februar, um 18 Uhr im Lutz des Theaters Hagen uraufgeführt. Die Vorstellungen sind für Zuschauer ab 10 Jahren empfohlen. Über das Projekt „Jeder Schüler ins Theater Hagen“ des Theaterfördervereins können Gruppen die Vorstellungen kostenlos besuchen. Weitere Infos zu Terminen und Karten: 02331 / 2073218 oder www.theaterhagen.de