Basel/Hagen. Die „Badenden“ von Matisse sind ein Hauptwerk der modernen Kunst. 1908 hing das Bild in Hagen. Wie es in die Baseler Ausstellung kam.
„Badende Frauen mit Schildkröte“ von Henri Matisse ist ein epochenwendendes Gemälde der klassischen Moderne. Das revolutionäre Bild hat ein besonderes Schicksal. Erstmals seit 1939 ist es jetzt wieder in Europa zu sehen, in der bildschönen Ausstellung „Matisse – Einladung zur Reise“ der Fondation Beyeler in Basel. Sein erster Ausstellungsort war 1907 das Museum Folkwang in Hagen. Der Hagener Sammler Karl Ernst Osthaus hatte es pinselfrisch im Pariser Atelier von Matisse erworben.
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„Damit ist in Europa erstmals wieder sichtbar, welche Zeitenwende dieses Bild verkörpert“, erläutert Prof. Dr. Rainer Stamm, der Direktor des Hagener Osthaus-Museums. Stamm hat erst jüngst den Briefwechsel zwischen Matisse und Osthaus publiziert und das Verhältnis von Maler und Sammler erforscht (Matisse kommt mir vor wie vom Himmel. Hans Purrmann, Karl Ernst Osthaus, Henri Matisse. Der Briefwechsel 1907-1919, Deutscher Kunstverlag). Dabei hat Stamm bislang unbekannte Dokumente und Kunstwerke entdeckt. So malte etwa Matisse nicht nur das bekannte Fliesentriptychon „Nymphe und Satyr“ für den Hagener Hohenhof, sondern einen weiteren vierteiligen Fliesenfries, dessen Existenz vorher nicht bekannt war.
Durch die Korrespondenz mit den Archives Matisse erfuhr Stamm, dass sich eine Fotografie des Werkes erhalten hat, wohingegen die Matisse-Forscher lernten, dass Osthaus das Werk kaufte. Stamm: „Zu den faszinierenden, bislang ungelösten Rätseln gehört der Verbleib des vierteiligen Fliesenfrieses, den Matisse zusammen mit dem Hohenhof-Fliesentriptychon 1908 Osthaus in Rechnung stellte.“ Vielleicht befindet sich das Werk ja bis heute unerkannt in einem gutbürgerlichen Hagener Wohnzimmer.
Henri Matisse war ein erfolgloser Künstler, als er 1906 das junge, steinreiche Ehepaar Osthaus in Paris kennenlernte. Die Begegnung brachte für beide Parteien eine Wende. War Osthaus bei seinen Kaufentscheidungen bisher auf die Ratschläge von Experten wie Henry van de Velde angewiesen, so wird das „Stillleben mit Affodillen“ sein erster selbstständiger Ankauf. „Matisse ist seine erste Entdeckung“, beschreibt Stamm die Euphorie, mit der Osthaus die Arbeiten des Malers sammelte. „Man merkt in seinen Briefen den Stolz darauf, dass er seine Lehrmeister hinter sich gelassen hat. Der Ankauf der ,Badenden‘ war ein Paukenschlag, das war das Allerfrischeste, was er in sein Museum holte. Als das Bild in Hagen ankam, hätte man die Farbe noch riechen können.“
Die Farbe von der Form befreit
Doch was macht die „Badenden mit Schildkröte“ so revolutionär? Matisse befreit darin die Farbe von der Form. Stamm: „1907 gibt es in der Kunstgeschichte zwei Epochenbrüche, zwei Gemälde, nach denen nichts mehr ist wie vorher. Das eine sind die ,Demoiselles d‘Avignon‘ von Pablo Picasso, das in Richtung Kubismus geht, und das andere die ,Badenden Frauen mit Schildkröte‘ von Matisse. Matisse überwindet hier den Impressionismus und macht eine ganz neue Tür auf. Die Gegenständlichkeit ist nicht mehr Abbild.“
Die „Badenden“ erzeugen in Hagen einen gewaltigen Wellengang. Denn das 1902 gegründete Museum Folkwang, das erste Museum für moderne Kunst weltweit, das gleichzeitig auch das erste Museum für Weltkunst ist, lockte viele junge Künstler an, darunter August Macke, der 1908 erstmals nach Hagen kam. „Wir waren ganz jeck“, so beschrieb Macke die Eindrücke seines Besuchs im Museum Folkwang. Bereits im Dezember 1907 widmete das Folkwang-Museum Matisse eine Einzelausstellung mit sieben Gemälden. Für Matisse bedeutet Hagen ein Sprungbrett. Ein regelrechter Wettlauf internationaler Sammler um die aktuellsten seiner Bilder entbrennt.
Museumsdirektor Stamm hat einen Artikel der Hagener Zeitung recherchiert. Darin beschreibt Karl Ernst Osthaus seinen Mitbürgern am 24. Dezember 1907 sozusagen als Weihnachtsgeschenk seine Matisse-Neuerwerbungen und begründet, dass der Betrachter angesichts von Matisses Schöpfungen begreifen muss, „warum der Künstler nicht Sklave der Wirklichkeit ist“. Der Artikel belegt zudem, dass es damals ebenso viel Ressentiments gegenüber zeitgenössischer Kunst gegeben haben mag wie heute, denn Osthaus schreibt: „Es wäre aber unrecht, Künstlern die Möglichkeit zum Ausstellen zu versagen, weil sie Widerspruch hervorrufen könnten. Der Zweck unserer Anstalt ist nicht, die Menschheit vor Entwickelung zu schützen.“
In die Geschichte eingegangen ist die Beziehung zwischen Osthaus und Matisse auch durch den denkwürdigen Besuch des Künstlers in Hagen. Im Januar 1909 legt Henri Matisse auf der Rückreise von Berlin nach Paris einen Zwischenstopp in Hagen ein, um endlich das Folkwang-Museum zu besichtigen und Osthaus zu treffen. Der Besuch verläuft irritierend. Osthaus zwingt dem Franzosen eine Besichtigung des neuen, noch nicht eröffneten Krematoriums von Peter Behrens auf, dem ersten Krematorium in Preußen. Gegen ein Eintrittsgeld von 50 Pfennigen können die Hagener die technische Ausstattung besichtigen, und sie strömen in Scharen herbei.
Matisses Schüler und Agent Hans Purrmann beschreibt die Szene: Osthaus wollte „Matisse sein in ödester Fabrikgegend neuerbautes Prachtkrematorium zeigen. Es war an einem Sonntagnachmittag, es regnete, der halbgefrorene Boden war kaum zu begehen. Dennoch drang Osthaus in mich, Matisse zu einem Besuch zu überreden, der sich dann aus Höflichkeit dazu bereit fand. Dort angekommen, ertönte uns das feierlichste Tremolo einer Orgel entgegen, und beim Eingang sah Matisse im Dämmerlicht den mit einem Kranz bedeckten Sarg langsam zur Inzineration (Einäscherung) versinken. Und gegen mich gerichtet, erschreckt, im Flüsterton: ,Mon dieu, un mort‘.“
Matisse wusste zunächst nicht, dass der Sarg leer war. Das Ereignis schockierte ihn derart, dass er, zurück in Paris, von den sonderbaren Gebräuchen der Deutschen berichtete, die sich zum Sonntagsvergnügen eine Leiche vorführen lassen, die überhaupt keine ist.
Sammlung wird geplündert
Nach dem frühen Tod von Karl Ernst Osthaus 1921 geht das Museum Folkwang mitsamt aller Matisse-Werke außer dem Hohenhof-Triptychon 1922 nach Essen. Die Nazis plündern die Sammlung 1937. Von den 94 Bildern, die Osthaus erwarb, fällt rund die Hälfte dem Bildersturm der „Entarteten Kunst“ zum Opfer, darunter alle Werke von Matisse mit Ausnahme der „Affodillen“, dem ersten Bild, das Osthaus 1907 von Matisse kaufte. Die Nazis versteigern die geraubten Bilder 1939 bei einer Auktion in der Schweiz, sie brauchen die Devisen. Die „Badenden Frauen mit Schildkröte“ gehen an den Verleger Joseph Pulitzer jr., der sie dem Saint Louis Art Museum vermacht.
Das Saint Louis Art Museum schmückt sich auf seiner Webseite mit einer historischen Fotografie, welche die „Badenden Frauen“ zeigt. Das Museum beschreibt auch die Auktion der „Entarteten Kunst“. Joseph Pulitzer Jr. war damals erst 26 Jahre alt. Matisses Sohn Pierre hatte ihm geraten, an der Versteigerung teilzunehmen. Der Amerikaner kaufte das Gemälde für 9100 Schweizer Franken (2400 Dollar). „Wir standen vor einem schrecklichen Konflikt – einem moralischen Dilemma“, wurde Pulitzer später zitiert. „Wenn das Werk gekauft wurde, wussten wir, dass das Geld an ein Regime ging, das wir verabscheuten. Wenn das Werk nicht gekauft wurde, würde es zerstört werden. Um die Kunst für die Nachwelt zu bewahren, kaufte ich es – trotzig!“ Pulitzer und seine erste Frau, Louise Vauclain Pulitzer, schenkten die „Badenden Frauen mit Schildkröte“ 1964 dem Saint Louis Art Museum, wo es sich heute noch befindet.
Die „Badenden Frauen mit Schildkröte“ sind nicht das einzige Hagener Matisse-Bild in der Ausstellung der Fondation Beyeler. Unter den 70 Hauptwerken des Malers aus europäischen und amerikanischen Museen befindet sich ebenfalls die Flusslandschaft „La Berge“ von 1907, die Osthaus 1908 kaufte. Das Werk wurde ebenfalls 1939 als „entartete Kunst“ versteigert und befindet sich heute im Besitz des Kunstmuseums Basel.
Ausstellung: Einladung zur Reise. Bis Januar 2025 in der Fondation Beyeler in Basel. www.fondationbeyeler.ch