Hagen. Die Welt ist verrückt geworden. Krieg, Inflation, Klimawandel, Hass. Schluckt die Zukunftsangst das Glück? Warum das nicht sein muss.

Die Welt ist verrückt geworden, und die Bürger haben Angst, Schicksalsangst. Schlechte Nachrichten allenthalben.  Kriege rücken näher. Terrorismus verunsichert den Alltag, viele Fragen zu Flüchtlingen, Klimawandel, kaputten Brücken, Renten, Wirtschaftskrise, Missbrauch; Hass, Hetze, Spaltung. Und jetzt kommen auch noch die langen dunklen Tage. Wo bleibt da die Hoffnung? Sind Furcht, Unruhe und Depression tatsächlich unausweichlich die Störgeräusche unserer Epoche? Oder wird es höchste Zeit, einmal über das Gute nachzudenken, das unser Leben begleitet? Über das Grundrauschen des Glücks.

Unglücklich, obwohl es gut geht?

Wenn Bewohner eines fernen Wüstenplaneten mit ihrem Raumschiff in Deutschland landen würden, könnten sie wohl einen Kulturschock erleben. Sauberes köstliches Trinkwasser rinnt ohne Begrenzung aus dem Kran, ja die Bewohner verschwenden die kostbare Ressource sogar. Es gibt so viel Nahrung, dass sie tonnenweise weggeworfen wird. Kinder dürfen kostenlos zur Schule. Kleidung ist ein Problem, nicht, weil sie fehlt, sondern weil sie Müllberge verursacht. Ferienflugzeuge und Kreuzfahrtschiffe sind überfüllt. Und doch sind die Deutschen unglücklich, sehr unglücklich sogar. Im World Happiness Report belegt das Land gerade mal Platz 24. Die Außerirdischen wundern sich. Aus ihrer Perspektive geht es den Deutschen gut.

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Was ist Glück? Um diese Frage ranken sich ganze Industriezweige. Wer etwas verkaufen will, muss die Ware mit einem Glücksversprechen belegen. Von der Kaffeebohne bis zum faltbaren Handy wird auf allen Kanälen unablässig suggeriert, dass Mann, Frau oder Kind erst dann überhaupt glücklich sein können, wenn Produkt X gekauft wird. Die sozialen Medien sind eine gigantische Glücksmaschine. Die Influencer mit ihren Aufräumtipps, Kochrezepten, Sportübungen und Lebensratschlägen unterstellen, dass man ohne ihre Anleitung nicht glücklich sein kann. Und selbst am Arbeitsplatz reicht es längst nicht mehr aus, dass der Arbeitnehmer pünktlich und ausgeschlafen erscheint, nein, er muss seinen Job gerne tun. Der Glücksdruck in der modernen Gesellschaft ist ungeheuer.

„Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.“

Albert Schweitzer zugeschrieben

Doch macht es wirklich glücklich, das neueste Mobiltelefon zu besitzen? Bei der Suche nach der Ursache für so viel Unglück im reichen Deutschland kann ein Blick in die Wortgeschichte des Glücks helfen. Der Begriff taucht erst relativ spät, im frühen 12. Jahrhundert, als „gelücke“ auf. Über die genaue Herleitung streiten die Gelehrten bis heute. Jedenfalls enthält „gelücke“ eine Zufallskomponente. Gemeint ist der günstige Verlauf im Gegensatz zur Seligkeit oder dem Heil.   

Fortunas Rad dreht sich

Glück ist allerdings mehr als eine Vokabel, es handelt sich um ein Denkkonzept. Bereits die antike Göttin Fortuna ist ambivalent. Fortuna bedeutet zuallererst Schicksal. Sie ist eine Schicksalsgöttin, sie dreht ihr Rad, und der Sterbliche muss akzeptieren, dass er mal unten liegt und mal oben. Glück ist abhängig vom Schicksal, von der göttlichen Bestimmung, vom Zufall.  Das Rad der Fortuna symbolisiert im Mittelalter, dass das Schicksal ständig in Bewegung ist, unsicher, unberechenbar, dass Glück und Unglück sich abwechseln, dass sie nahe zusammenliegen. Ohne Unglück kein Glück.

In der modernen Welt ist das Glück hingegen mit den Tüchtigen. Dahinter steckt die eher protestantische Vorstellung, dass man sein Glück beeinflussen kann, indem man bestimmte Regeln befolgt. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Und im Postkapitalismus wird Glück zur Pflicht und zur Ware. Selbst die Kühe müssen glücklich sein, um Milch zu verkaufen. Die Glücksschweinchen, die wir Silvester verschenken, sind sehr weit entfernt vom mittelalterlichen Bewusstsein, dass das Glück nur der erkennt, wer den Mangel oder die Entbehrung kennt.

Ministerium für Glück

In Deutschland gibt es ein „Ministerium für Glück und Wohlbefinden“, dahinter verbirgt sich ein soziales Kunstprojekt. In Bhutan ist das Glück der Einwohner als Staatsziel festgeschrieben. Entsprechend spricht man vom Bruttonationalglück (BNG). Damit ist laut Wikipedia „ein qualitätsorientierter Indikator für das gesamthafte Wohlergehen (inkl. materiellem Wohlstand, aber auch psychischem Wohlbefinden) einer großen Gemeinschaft“ gemeint. Demzufolge orientieren sich Island, Neuseeland, Schottland und Wales bereits am BNG.

„The Pursuit of Happiness“, also das Streben nach Glückseligkeit, ist 1776 erstmals als Menschenrecht aufgeführt worden, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“, heißt es in der Präambel. Das Streben nach Glückseligkeit neben Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Menschenrecht ist ein revolutionäres Denkmodell, das sich im alten Europa nicht durchgesetzt hat. Doch in der Neuen Welt ist es bis heute ein Versprechen. Jeder Tellerwäscher kann zum Millionär werden. Niemand muss in den Grenzen bleiben, die ihm sein Stand oder seine Herkunft aufzeigen.

Das vermessene Gefühl

Das Glück ist natürlich längst vermessen. Der World Happiness Report ist nur eine von unzähligen Studien, die Fortunas Lächeln zu fassen kriegen wollen. Was macht also glücklich? Die Wissenschaft unterscheidet zwischen zwei Aspekten: Es gibt die Freude, die auch kurzfristig sein kann. Diese Freude erfüllt uns, wenn ein Baby uns ansieht, ein Sonnenstrahl durchs Fenster fällt, ein Passant uns anlächelt, jemand nett oder hilfsbereit ist, wir einen Lauf auf der Arbeit haben, wir ein Ziel erreichen, das wir uns gesetzt haben, Kuchen backen, spazieren gehen, eine schwierige oder angstbesetzte Aufgabe meistern. So geht das Glück der kleinen Dinge. Dann gibt es noch die grundsätzliche Zufriedenheit mit dem Leben, was aber eher eine Einstellung ist als eine Summe von kartierbaren Geschehnissen.

Trotz aller Untersuchungen bleibt das Glück schwer zu definieren, ein ersehnter Zustand, den Philosophen und Mediziner kaum beschreiben können. Allenfalls die Dichter finden Worte dafür, so wie Goethe, der alte Spötter: „Dass Glück ihm günstig sei, / Was hilft‘s dem Stöffel? / Denn regnet‘s Brei/ Fehlt ihm der Löffel.“

Lange sind die Wissenschaftler davon ausgegangen, dass man Glück am Bruttoinlandprodukt erkennen kann. Doch das erwies sich als falsch. Armut macht häufig unglücklich, aber Reichtum macht nicht zwingend glücklich. Was hingegen glücklich macht, sind Faktoren wie: Gesundheit und gute soziale Beziehungen, also Liebe, Familie, Freundschaften und Nachbarschaft, dazu Musizieren, ein Hobby pflegen oder in die Kirche gehen. Arbeit kann glücklich machen, wenn sie sinnhaft und erfüllend ist. Auch die allgemeine Lebenssituation hat Auswirkungen auf das Glücksempfinden. Menschen, die in Freiheit und Demokratie leben, sind häufiger glücklich.

Unzufriedenheit statt Glück

War im Mittelalter die Ambivalenz des Glücksbegriffs jederzeit bewusst, so herrscht in unserer Epoche Glücksdruck. Der kann krank machen und hat auf jeden Fall Unzufriedenheit zur Folge. Doch das Glück besitzt eine Eigenschaft, die es über alle anderen Seelenzustände heraushebt. Albert Schweitzer soll das zuerst formuliert haben: „Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.“ Es ist inzwischen wissenschaftlich erforscht, dass gute Taten glücklich machen.  Anderen eine Freude bereiten, Bedürftigen helfen, sich im Ehrenamt engagieren, all das sind erprobte Methoden, das eigene Wohlbefinden zu steigern. Manchmal reicht es dazu sogar einfach aus, sich dem Glücksdruck nicht zu beugen, sondern satt und sauber in den nächsten Tag zu kommen.