Arnsberg/Iserlohn/Letmathe. Geistlicher genoss im Sauerland hohes Ansehen, jetzt werden Missbrauchs-Taten öffentlich. Warum Betroffene das Erzbistum kritisieren.
Der Nachruf liest sich wohlwollend. Er stammt vermutlich aus der Gemeinde und wurde in den Lokalteilen der Zeitungen veröffentlicht, wo der verstorbene Geistliche eingesetzt war. Dort steht „Kinder-, Jugend- und Schulseelsorge sowie Messdienerarbeit lagen ihm besonders am Herzen.“ Das war im Jahr 2016. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Erzbistum bereits alle Akten über den Priester Johannes Nokelski an die Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz (MHG-Studie) weitergeleitet. Johannes Nokelski werden im Bistum Aachen sieben Missbrauchstaten vorgeworfen, dafür wurde er zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt. Nach der Haft setzte ihn das Erzbistum Paderborn als Jugendseelsorger ein. Bisher sind vier Fälle bekannt. Das Erzbistum Paderborn klärte am Donnerstagabend in Arnsberg namentlich über die Vorwürfe auf. Nicht eingebunden in die Aufarbeitung ist bisher die Unabhängige Vertretung der Betroffenen im Erzbistum. Sprecher Reinhold Harnisch (68) kritisiert im Interview mit unserer Redaktion das Erzbistum, Informationen im Fall Nokelski vertuscht zu haben.
Sollen die Täternamen öffentlich genannt werden? Was ist die Sicht der Betroffenen dazu?
Reinhold Harnisch: Die Namensnennung ist eine der Grundforderungen der Betroffenen, anders können wir das Dunkelfeld nicht erhellen. Viele Betroffene denken, sie waren die einzigen, die das erlebt haben. Erst wenn sie den Namen lesen, erfahren sie, dass es noch andere Betroffene gibt, das ist eine wichtige Information. Es darf aufgrund der bekannten Vertuschungen und Verleugnungen keinen Täterschutz mehr geben. Man darf nie vergessen: Betroffene haben lebenslänglich. Für sie gibt es keine Verjährung. Viele stehen mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit, weil sie die Interessen anderer Betroffener und die eigenen Interessen verfolgen.
Rechnen Sie damit, dass sich im Fall Nokelski noch mehr Betroffene melden?
Wir als Betroffene im Erzbistum Paderborn und auch die Betroffenen im Bistum Aachen gehen von einem Dunkelfeld aus. Nokelski hat unmittelbar nach seiner Priesterweihe im Bistum Aachen den ersten Jungen vergewaltigt und dann in nur dreieinhalb Jahren sieben Kinder missbraucht. Nach seiner Haftentlassung hat er im Erzbistum Paderborn in vier bekannten Fällen Kinder missbraucht. Warum hätte er damit aufhören sollen? Die Betroffenen in Aachen sind in einer angefassten Gemütsverfassung, weil das jetzt an die Öffentlichkeit geht. Da kommt vieles wieder hoch – zumal die Aufarbeitung sich hinzieht.
Betroffenenberichten zufolge hat Nokelski den Kindern schlimme Sachen angetan.
Das zeichnet viele Täter in Priestertracht ja aus, dass sie sexsüchtig und gewaltsüchtig sind. Wenn es um Sex mit Kindern geht, ist immer Gewalt im Spiel – Kinder wollen das nicht. Ja, es wird vermutet, dass es deutlich mehr Fälle sind. Aus heutiger Sicht ist es unerklärlich, dass die Eltern ihre Kinder nicht ausreichend geschützt haben. Dazu kam damals vermutlich auch noch die überkommene Obrigkeitshörigkeit. Die Kirche hat die Opfer als Lügner hingestellt und die Taten bestritten. Alle Fürsorge galt den Tätern. Mit der Opferperspektive tut sich die Kirche nach wie vor schwer.
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Wie wurde im Fall Nokelski vertuscht?
Nokelski gehört zu den Fällen, die systematisch in Kenntnis der Dinge nicht an die Öffentlichkeit gegeben wurden. Man hat ihn – wie in solchen Fällen üblich - weiterversetzt, von Willebadessen nach Iserlohn-Letmathe, nach Rüthen, nach Arnsberg. Man wusste zum Zeitpunkt seines Todes 2016, dass er einer der schlimmsten Täter war, die je im Erzbistum Paderborn als Priester arbeiteten. Man hätte zu diesem Zeitpunkt den oben zitierten Nachruf nicht verfassen dürfen. Man hat die Gemeindepfarrer offensichtlich nicht über die Vorgeschichte informiert. Die höchsten Vertreter der Bistümer haben sich um die Täterpriester gekümmert, nicht um die Betroffenen. Das ist der eigentliche Skandal, weil die Kirche doch diesen überhöhten moralischen Anspruch hat. Was ist denn die aktive Rolle des Erzbistums Paderborn bei der Aufarbeitung? Ich kann keine eigenen Beiträge erkennen! Die Bistümer lassen die Aufarbeitung durch Gutachten, unabhängige Kommissionen und Betroffenenbeiräte erarbeiten.
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Die MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz wurde 2018 veröffentlicht. Das Erzbistum Paderborn beginnt erst jetzt mit der Aufarbeitung des Falles Nokelski. Wie sehen Sie das?
Aus Betroffenensicht kann ich damit nicht zufrieden sein, weil es einfach noch zu viel ist, was aufgearbeitet werden muss, und das Tempo ist viel zu langsam - offenbar ist der Personaleinsatz zu gering. Zu den alten Fällen kommen ja viele neue Fälle dazu. Die Zeit vergeht, und viele Betroffene werden bei diesem Tempo den Ausgang ihrer Verfahren aufgrund des fortgeschrittenen Alters wohl nicht mehr erleben.
Sie wurden als Chorknabe vom damaligen Domvikar missbraucht, einem zweifach gerichtlich verurteilen pädophilen Serientäter. Was macht der Fall Nokelski mit Ihnen? Kommt alles wieder hoch?
Distanz dazu ist unmöglich – natürlich wird man als Betroffener dadurch getriggert. Durch die Arbeit in der Betroffenenvertretung und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission habe ich aber gelernt: Ich bin nicht alleine. Dieses Gefühl des „Alleinseins“ und daraus resultierende Schuldgefühle begleiten nahezu alle Betroffenen, die ich kenne, durch das Leben. Viele Betroffene konnten und können sich nicht melden, weil sie denken, sie müssen die Verfahren alleine durchstehen. Wir möchten Betroffene ermutigen, sich zu melden, auch im Fall Nokelski. Wir möchten das Dunkelfeld erhellen. Das sind die wichtigen Aufgaben, die noch vor uns liegen.
Warum fürchten sich Betroffene so sehr?
Können Sie sich vorstellen, was es mit den Betroffenen und ihren Angehörigen, ihren Ehefrauen und -männern, Kindern, Enkeln, Eltern und Angehörigen macht, wenn sie sich, teils öffentlich und namentlich so wie ich, als Betroffener zu erkennen geben? Ich kenne Menschen, die sind derartig schwer traumatisiert, auch 40, 50 Jahre nach den Missbrauchstaten. Manche Betroffenen entwickeln Panik, wenn wir sie zu einer Veranstaltung einladen, fragen sich, ob das ein sicherer Ort ist. Es gibt bestimmte Ereignisse, Triggerpunkte, eine Situation, ein Geruch, ein Gesicht, dann kommt die Erinnerung wieder hoch. Ich habe selbst solche Momente erlebt, wo man an seine Grenzen gerät. Wenn man dann niemanden hat, der einen auffängt, kann das dramatisch enden. Bei der Verarbeitung von Traumata durch Missbrauch gibt es noch viele offene Fragen. Wir wissen aus einer wissenschaftlichen Studie, dass traumatische Erfahrungen mindestens über zwei Generationen vererbt werden können. Was der Missbrauch also mit unseren nächsten Angehörigen, Kindern und Enkeln als Sekundär-Betroffene macht, wissen wir noch gar nicht.
Betroffene machen wiederholt Ohnmachtserfahrungen, sagen Sie. Können Sie ein Beispiel schildern?
Das System Kirche stellt die Betroffenen nach wie vor in die Bittsteller-Rolle. Mein Missbrauchsfall ist zum Beispiel als „Arbeitsunfall“ anerkannt, weil ich im Domchor quasi ein „Beschäftigter im Ehrenamt“ war. Die zuständige Berufsgenossenschaft hat die Bistümer dazu aufgerufen, alle derartigen Fälle zu melden. Aber auch die Anerkennung des „Unfalls“ ist nur ein erster Schritt – Hilfe gibt es wiederum nur, wenn man es schafft, die damit verbundenen bürokratischen Verfahren, entwürdigenden Gespräche, Untersuchungen und Gutachten zu absolvieren. Alles Geschehene muss detailliert wieder und wieder dargelegt werden. Da ist eine Re-Traumatisierung eigentlich schon impliziert. Immer wieder ist man als Betroffener allein, in der Beweispflicht und dem System hilflos ausgeliefert. Allein der lange Zeitablauf für die Anerkennungsverfahren lässt dabei Betroffene nicht zur Ruhe kommen – diese Verfahren dauern mehrere Jahre, in denen zum Beispiel eine therapeutische Behandlung überhaupt keine Wirkung erzielen kann.
Wenn sich Betroffene und Zeugen im Fall Nokelski nicht an die Kirche wenden möchten, können sie sich bei der Betroffenenvertretung melden?
Genau. Sie können sich vertraulich an uns wenden, wir sind völlig unabhängig von der Kirche. Wir können erst einmal beraten und qualifizierte Hilfsstellen benennen - unabhängig - von Betroffenen zu Betroffenen. Oder sie können sich an die unabhängige Aufarbeitungsstudie der Universität Paderborn wenden. Es gibt Betroffene, die wollen sich nicht mit der Kirche auseinandersetzen, weil sie fürchten, den psychischen Druck nicht zu ertragen. Alle Verfahren zur Anerkennung sind regelmäßig mit einer enormen Belastung für Betroffene verbunden, und auch darüber informieren wir in unseren Gesprächen, damit Betroffene in Kenntnis dessen entscheiden können, was auf sie zukommen kann.
Johannes Nokelski erkrankte 2005 und kam in den Rollstuhl. 2008 wurde er aus dem Priesterdienst in den Ruhestand entlassen, lebte aber bis zu seinem Tod 2016 weiter in Arnsberg.
Es ist also davon auszugehen, dass dort noch eine hohe Zahl von Zeitzeugen vorhanden sind, die ihn noch persönlich erlebt haben. Dieses Dunkelfeld muss erhellt werden – Betroffene müssen die Möglichkeit erhalten, Hilfe und Anerkennung ihres Leids zu erfahren. Schweigen ist ein Fehler. Betroffene haben einen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung, der bisher oft auch verweigert wurde. Aber wichtig ist auch, dass durch die Aufklärung und Transparenz auch endlich falsche Bilder korrigiert und Lebensläufe richtig gestellt werden.
Kontakte für Betroffene und Zeugen
- Unabhängige Betroffenenvertretung im Erzbistum Paderborn e.V.: Postfach 1103, 33041 Paderborn, info@betroffene-paderborn.de
- Unabhängiges Forschungsprojekt zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum Paderborn: christine.hartig@uni-paderborn.de
- Interventionsbeauftragter des Erzbistums Paderborn: thomas.wendland@erzbistum-paderborn.de