Hagen. Mindestens elf Kinder soll ein vorbestrafter Priester in den Bistümern Aachen und Paderborn missbraucht haben. Diese Fragen sind offen.

Ein Priester sitzt wegen des Missbrauchs von Kindern im Gefängnis, wechselt das Bistum und wird nach seiner Entlassung aus der Haft vom Erzbistum Paderborn in vollumfänglicher Kenntnis der Sachlage sofort in die Jugendseelsorge geschickt. Wie kann so etwas passieren? Das Erzbistum Paderborn will die Fälle jetzt aufarbeiten und bittet Zeugen und weitere Betroffene, sich zu melden. Gleichwohl wirft die Sache viele Fragen auf, auch an das Verhalten des Erzbistums in jüngerer Zeit: Denn der Fall ist bereits 2018 in die Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz eingegangen. Öffentlich wird er aber erst jetzt.

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Schon an seinem ersten neuen Paderborner Dienstort als Jugendseelsorger in Peckelsheim bei Willebadessen wird der einschlägig vorbestrafte Priester beschuldigt, zwei weitere Kinder missbraucht zu haben. Er wird erneut weiterversetzt, wieder in den Gemeindedienst, in Iserlohn-Letmathe, dann Rüthen und dann Arnsberg. Aus Rüthen sind zwei weitere Vorwürfe in Paderborn aktenkundig. Im Jahr2016 wird der beschuldigte Priester in allen Ehren in Arnsberg beerdigt. Insgesamt ist der Mann in den Bistümern Aachen mit elf Fällen und Beschuldigungen des Kindesmissbrauchs aktenkundig. Beide Diözesen gehen von einer weit höheren Dunkelziffer aus. Das Erzbistum Paderborn zeigt sich in einer Mitteilung selbstkritisch: „Ausdrücklich bedauert das Erzbistum den nicht nur aus heutiger Sicht unverantwortbaren Einsatz des Priesters.“

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Was ist über den Priester bekannt, der aus der Aktenlage als Serientäter einzuordnen ist und den kein Bischof stoppte? Das Bistum Aachen hat die dortige Aktenlage auf Bitte unserer Redaktion recherchiert: Der Mann wurde erst mit 28 Jahren zum Priester geweiht, im September 1966 im Bistum Aachen. Zuvor hatte er eine Ausbildung zum Fernmeldetechniker absolviert, wie aus dem 2016 veröffentlichten Nachruf unserer Redaktion hervorgeht. Bereits wenige Monate nach der Priesterweihe, 1967, beging er laut Bistum Aachen als Kaplan von St. Mariä Himmelfahrt in Stolberg-Mühle seine erste Tat. Der Mann war 1938 in Danzig geboren worden und kam 1958 nach Deutschland.

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„Auf Grund der Akten können wir als Bistum Aachen von mindestens sieben Betroffenen ausgehen“, so Marliese Kalthoff, die Sprecherin des Bistums Aachen, gegenüber unserer Redaktion. Alle Taten geschahen demzufolge in dem kurzen Zeitraum zwischen 1967 und 1969 in Stolberg-Mühle bei Aachen. Dann muss offenbar Anzeige erstattet worden sein, das Bistum Aachen versetzte den Mann jedenfalls in schneller Folge im April 1969 nach St. Donatus in Aachen-Brand, am 12. Mail 1969 wurde er beurlaubt und am 15. Mai als Kaplan im Altersheim Johanneshöhe in Feldkirchen-Müllenberg eingesetzt.

Auf Grund der Akten können wir als Bistum Aachen von mindestens sieben Betroffenen ausgehen“, so Marliese Kalthoff, die Sprecherin des Bistums Aachen.“
Marliese Kalthoff, Sprecherin des Bistums Aachen

Marliese Kalthoff weiter: „Am 30. September 1969 wurde der Priester vom Landgericht Aachen wegen „Unzucht“ mit männlichen Abhängigen unter 14 Jahren, versuchter „Unzucht“ und „Unzucht“ mit einem über 14-, aber unter 21-Jährigen zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.“ Die Freiheitsstrafe saß er in den Justizvollzugsanstalten Siegburg und 1970 und 1971 im offenen Vollzug in Attendorn-Neu-Listernohl ab. Dort kam er mit dem Erzbistum Paderborn in Kontakt und war nach Angaben des Erzbistums Paderborn bereits in der Gemeinde seelsorgerlich tätig.

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Marliese Kalthoff schildert: „Das Erzbistum Paderborn war durch das Bistum Aachen vollumfänglich informiert über seine Taten.“ Warum setzte der damalige Erzbischof Lorenz Kardinal Jaeger den Priester trotz der Vorgeschichte sofort nach der Haftentlassung 1971 wieder in der Jugendseelsorge ein? „Zwei fachärztliche und psychologische Gutachten sowie die Einschätzung des damaligen JVA-Leiters kamen derzeit zu dem Schluss, dass bei einem zukünftigen Einsatz keine weiteren Ausfälligkeiten im sexuellen Bereich zu erwarten seien“, heißt es in der Mitteilung des Erzbistums. Heike Meyer, Sprecherin des Erzbistums Paderborn, schildert, dass das Bistum Aachen den Priester nicht zurückwollte und darum bat, ihn im Paderborner Gebiet zu beschäftigen. Der Geistliche ging aus dem Gefängnis 1971 nach Peckelsheim und in das damalige Dekanat Gehrden, wurde 1975 nach Iserlohn-Letmathe versetzt, im Jahr 1981 nach Rüthen und 1991 nach Arnsberg, wo er bis zu seiner Pensionierung 2008 blieb und 2016 im Alter von 78 Jahren starb.

In Arnsberg gestorben

Vor allem die Versetzung nach Letmathe wirft die Frage auf, ob das Erzbistum nicht bereits zu diesem Zeitpunkt von neuen Vorwürfen wusste. Ein Betroffener berichtete im Jahr 2023 in einem Interview mit dem „Westfalen-Blatt“, dass der damalige Vikar ihn als 12-Jährigen im Jahr 1975 auf einer Messdiener-Ferienfreizeit vergewaltigt habe. Der Vikar sei wenige Wochen später völlig überraschend versetzt worden. Laut Erzbistum Paderborn sind aus der Peckelsheimer Zeit insgesamt zwei Vorwürfe bekannt. Der zeitliche Ablauf und die plötzliche Abberufung legen den Verdacht nahe, dass das Generalvikariat in Paderborn bereits zu diesem frühen Zeitpunkt Kenntnisse hatte und den Mann dennoch weiter mit Gemeindearbeit beauftragte. Eine Kontrolle seines Verhaltens war schwerlich möglich, denn „die Pfarrer und Seelsorger in den jeweiligen Gemeinden waren nicht über die Vorgeschichte des Geistlichen informiert“, so das Erzbistum.

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Hat das Erzbistum die Fälle vertuscht? Laut Sprecherin Heike Meyer hat Paderborn erst später von neuen Vorwürfen erfahren. „Im Jahr 1991 erhielt der damalige Paderborner Erzbischof Degenhardt dann Hinweise, dass der Beschuldigte sexuelle Kontakte zu einem Jugendlichen unterhalten solle“, so die Mitteilung. In diesem Satz ist die Wortwahl auffällig. „Sexuelle Kontakte“ legen verharmlosend Einvernehmlichkeit nahe, was aber vermutlich nicht der Fall war. Die Eltern des Betroffenen sprachen sich demzufolge gegen eine Veröffentlichung der Vorwürfe zum Schutz des Opfers aus. Das war in Rüthen. Aus Rüthen ist ein weiterer Fall aktenkundig. Der Priester wurde daraufhin nach Arnsberg versetzt. Aus heutiger Sicht ebenfalls unverständlich: „Erst später erhielt der Priester die Auflage, den früheren Einsatzort zu meiden“, so das Erzbistum.

Erzbistum vermutet Dunkelfeld

Aus Letmathe und Arnsberg sind keine Vorwürfe bekannt. Das Erzbistum geht jedoch von einem Dunkelfeld aus und bittet Betroffene und Zeugen, sich zu melden. In Arnsberg bietet die Propsteipfarrei St. Laurentius am 6. Juni um 19 Uhr eine öffentliche Gemeindeversammlung im Kloster Wedinghausen an. Dazu laden auch die Gemeinden in Rüthen und in Letmathe ein.

Laut Heike Meyer wurden „die Akten des beschuldigten Priesters bereits im Rahmen der 2018 veröffentlichten MHG-Studie eingebracht“. Sie sind ebenfalls Gegenstand der seit 2020 laufenden, noch nicht veröffentlichten Missbrauchsstudie im Erzbistum Paderborn.

Die Vertretung der Missbrauchsbetroffenen im Erzbistum Paderborn ist bisher nicht in die Aufarbeitung einbezogen. Heinrich Maiworm aus Olpe ist ein Sprecher der Initiative: „Man hätte verhindern sollen, dass die Täter jemals wieder mit Kindern in Berührung kommen, aber so hat man damals nicht gedacht. Kardinal Jaeger hat offenbar geglaubt, der soll mal ordentlich beten, dann wird das schon wieder. Damals hat die Kirche gedacht, das ist Sünde und gegen die Sünde kommt man durch Beten an.“ Maiworm möchte aber nicht nur zurückblicken: „Eine interessante Frage ist, was heute in einem solchen Fall passieren würde. Der betreffende Priester wäre sofort weg vom Fenster. Das ist schon ein Riesenfortschritt, im Erzbistum Paderborn verstärkt durch den neuen Erzbischof, der das Thema wohl energisch anpackt.“

Betroffene und Zeugen melden sich beim Interventionsbeauftragten Thomas Wendland: 0171 / 863 1898 oder thomas.wendland@erzbistum paderborn.de.