Siegen/Breckerfeld. Objekte in Siegen und Breckerfeld galten als Geldwaschanlagen der Mafia. Warum es nach der Razzia noch keine Anklagen gibt.
Dort, wo einst Stracciatella, Malaga und andere Eissorten im Waffelhörnchen verkauft wurden, herrscht jetzt, sieben Monate nach der europaweiten Anti-Mafia-Operation „Eureka“, immer noch Leere. Das einst gut frequentierte Eiscafé „Al teatro“ in der Siegener Fußgängerzone, direkt neben dem Apollo-Theater, ist heute ein Ladenlokal ohne Inventar - bis auf ein paar Eisbecher auf der Theke, einigen aufgestapelten Stühlen und wenigen zusammengefalteten Sonnenschirmen auf dem Boden. Bei der Razzia Anfang Mai hatten die Ermittler nahezu sämtliche Einrichtungsgegenstände mitgenommen. Wie zum Beispiel die italienische Siebträgermaschine.
Den mit Haftbefehl gesuchten Betreiber, mutmaßliches Mitglied der kalabrischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta, trafen die Einsatzkräfte seinerzeit allerdings nicht an. Der 36 Jahre alte Italiener wurde zeitgleich in seinem italienischen Heimatort San Luca verhaftet und nach einem Rechtshilfeersuchen Ende Juni von den dortigen Behörden an Deutschland ausgeliefert. Das hat Staatsanwalt Julius Sterzel, Sprecher der bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf angesiedelten Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten in NRW (ZeOS NRW), gegenüber der WESTFALENPOST bestätigt.
Brüder in Untersuchungshaft
Der 36-jährige Beschuldigte sitzt demnach derzeit ebenso in Untersuchungshaft wie sein zwei Jahre älterer Bruder. Der Mitbetreiber des Eiscafés wurde bei der „Eureka“-Razzia direkt in Siegen festgenommen.
Die eher unscheinbare Eisdiele am Schreinerplatz wurde damals auch dank NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) auf einen Schlag bekannt. „Siegen ist nicht San Luca“, hatte der CDU-Politiker mit Blick auf den Stammsitz der ’Ndrangheta in Kalabrien knackig formuliert. Und weiter: „Wir dulden es nicht, wenn Eisdielen in Wahrheit Geldwaschanlagen sind.“
Mutmaßlich in Kokaingeschäfte verwickelt
Wie das Landeskriminalamt in Düsseldorf nach der Durchsuchungsaktion bestätigte, hatte es damals Erkenntnisse bei den italienischen Ermittlungsbehörden gegeben, dass ein hochrangiges ’Ndrangheta-Mitglied etwa 400.000 Euro in das Eiscafé in der Siegener City investiert hatte. „Vermutlich waren es Erlöse aus illegalen Geschäften im internationalen Kokainhandel“, sagte Hans-Joachim Schulz, Leiter der Abteilung 1 beim LKA (Organisierte Kriminalität) der WESTFALENPOST bestätigt.
Jedenfalls soll der Mafia-Boss den ausgelieferten 36-Jährigen mit der Geschäftsführung des „Al teatro“ beauftragt haben. Zudem, so ein weiterer Verdacht der Ermittler, soll der Gastro-Betrieb als „Logistikstützpunkt“ der ’Ndrangheta gedient haben. Das bedeutet: als Ort, an dem Gesuchte untertauchen bzw. „Neue“ ausgebildet werden können.
Sieben Monate sind seit dem europaweiten Schlag gegen die Mafia vergangen. Die länderübergreifenden Ermittlungen hatten im Juli 2020 begonnen. Alleine in NRW waren Anfang Mai 50 Häuser, Wohnungen und Büros durchsucht worden. 500 Beamte waren unter anderem in Siegen, Hagen, Breckerfeld, Dortmund, Fröndenberg, Netphen und Wuppertal im Einsatz. 18 Tatverdächtige wurden festgenommen, europaweit waren es 130.
Umfangreiche Auswertungen
Was ist in der Zwischenzeit passiert? „Die Ermittlungen laufen. Ich kann Ihnen noch keine Angaben zum Zeitpunkt einer Anklageerhebung machen“, sagt der Düsseldorfer Staatsanwalt Julius Sterzel. „Wir haben wahnsinnig viel auszuwerten“, ergänzt er, „alleine 100 IT-Asservate.“ Zudem warte man noch auf einige Beweismittel aus Italien. Derzeit säßen noch elf Beschuldigte in Untersuchungshaft. Bislang gelang es der WESTFALENPOST nicht, mit Anwälten der Beschuldigten zu sprechen.
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Haftbefehl außer Vollzug
Schauplatzwechsel: Bei der „Eureka“-Ermittlungsaktion gegen die ’Ndrangheta im Mai wurde auch das „Angelparadies“ in Breckerfeld durchsucht. Dessen Eigentümer - ein 62 Jahre alter deutscher Staatsbürger aus Hattingen - wurde damals festgenommen. Er sitzt weiter in Untersuchungshaft. Gegen seine im Mai ebenfalls festgenommene Ehefrau wurde der Haftbefehl gegen Auflagen „außer Vollzug gesetzt“, so Staatsanwalt Sterzel.
Der 62-Jährige soll führender Kopf eines internationalen Betäubungsmittel-Netzwerkes gewesen sein und insbesondere gewerbsmäßig für die kalabrische Mafia Kokainschmuggel organisiert haben. Julius Sterzel zufolge soll er schon seit längerer Zeit bei „Kurierdiensten mit unterschiedlichen Tätergruppierungen zusammengearbeitet“ haben.
Weiter Fische in der Anlage
Nach der Beschlagnahmung durch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ist das Gelände des „Angelparadieses“ weiterhin stillgelegt. Die Strafverfolgungsbehörde hat Staatsanwalt Sterzel zufolge ein sogenanntes „Beschlagnahmevermerk“ im Grundbuch hinterlegt.
Und was ist mit den Fischen, die sich noch in der Anlage befinden? „Die werden von Kreismitarbeitern regelmäßig begutachtet und gefüttert“, sagt Ingo Niemann vom Ennepe-Ruhr-Kreis. Derzeit sei man in Gesprächen mit dem in Untersuchungshaft befindlichen Eigentümer des Angelparadieses: „Wir warten darauf, dass er uns eine sachkundige Person benennt, die die Anlage künftig betreut.“
>> Hintergrund: Die kalabrische ’Ndrangheta
Die kalabrische ’Ndrangheta soll in 40 Staaten kriminellen Geschäften - vor allem Kokainhandel - nachgehen. Sie gilt mittlerweile als reichste und mächtigste Mafiaorganisation. Dem Bundeskriminalamt zufolge ist sie mit gut 1000 Mitgliedern in verschiedenen Familienclans der stärkste Ableger der italienischen Mafia in Deutschland.
Bei der europaweiten Großrazzia im vergangenen Mai war Deutschland nach Italien das Land mit den meisten Festnahmen. Vier Staatsanwaltschaften sind hierzulande mit dem Verfahrenskomplex beschäftigt. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat im Oktober Anklage gegen zehn Beschuldigte wegen banden- und gewerbsmäßiger Betrugsstraftaten erhoben. Zum Gesamtkomplex gehört auch ein weiterer Großeinsatz Ende Juni, bei dem den Fahndern in Münster mit dem 62 Jahre alten Francesco A. einer der angeblich wichtigsten Köpfe der ’Ndrangheta in Deutschland ins Netz gegangen sein soll.
Vor zwei Wochen erst waren in Kalabrien, im größten Mafia-Prozess in Italien seit mehr als 30 Jahren, 207 mutmaßliche Mitglieder der ’Ndrangheta und Helfer zu Haftstrafen von einigen Monaten bis zu 30 Jahren verurteilt worden. Die Vorwürfe reichten von Bildung einer mafiösen Vereinigung, Drogenhandel und Geldwäsche bis zu Erpressung und Mordversuch.