Olpe. Immer weniger Menschen lassen sich im Sarg beerdigen. Die Friedhöfe sterben förmlich aus. Wie sich ein Experte deren Zukunft vorstellt.
Er steht bei herrlichem Frühlingswetter in diesem Idyll, die Sonne lacht, die Vögel zwitschern, die Linden grünen. Paul Henkel aber – Friedhofsverwalter der Stadt Olpe – klingt besorgt. Wie ein Arzt, ein Zahnarzt. Und der Befund für seinen Patienten ist düster. Überall „Zahnlücken“, klagt Henkel. Beispielsweise in Abteilung 13 des kommunalen Friedhofs in Olpe.
Wo sich früher Grab an Grab reihte, klaffen heute Lücken: leere Grabflächen, grauer Schotter, Unkraut. Friedhofsverwalter Henkel zeigt auf das triste Areal, fragt: „Würden Sie hier ein Grab kaufen?“ Es ist eine rhetorische Frage.
Auf dem Weg zum Treffen auf dem Friedhof in Olpe hat ihn ein Ehepaar gefragt, ob die kommunale Begräbnisstätte geschlossen werde. So viele „Zahnlücken“ gibt es hier inzwischen. Olpe ist dabei nur ein Beispiel für den Wandel der Bestattungskultur, der sich landesweit auf den Friedhöfen bemerkbar macht, wie Kommunen, Kirchen, Friedhofsgärtner, Bestatter und Steinmetze bestätigen. Sie alle werden durch die Entwicklung vor Herausforderungen gestellt.
Der Friedhofsverwalter
Paul Henkel ist seit 2010 Friedhofsverwalter der Stadt Olpe. Für den 64-Jährigen ist der Friedhof „eine Herzensangelegenheit“. Drei Stunden lang führt er mit viel Engagement und schnellen Schritten über die 1903 eröffnete und mehrfach erweiterte Anlage, deren ältester Teil wie ein Park wirkt: am Eingang eine Kapelle, in der Nähe eine Gärtnerei, auf dem Friedhof Schotterwege, Bäume, Blumen, Hecken, dazu teils prunkvoll gestaltete Gräber und Gruften alteingesessener Olper Familien.
Paul Henkel kennt alle Abteilungen des Friedhofs, den katholischen, den evangelischen, den muslimischen, die Kindergräber. Er schreitet sie alle ab, zeigt in den Grabreihen immer wieder auf „Zahnlücken“, mal spricht er auch von einem „Flickenteppich“. Mancherorts gewinnt Löwenzahn die Oberhand. Mit der Pflege all der freien Flächen, die immer größer werden, kommt die Verwaltung kaum hinterher.
Circa 5500 Gräber gebe es auf dem Friedhof, zehn Prozent, schätzt Henkel, seien unbelegt. An manchen Stellen sieht es aus, als wären es doppelt so viele. „Ich habe das Gefühl, der Wandel der Bestattungskultur ist eine Spirale, die sich immer schneller dreht“, sagt Paul Henkel.
Früher wurde (fast) jeder Tote mit Sarg im Erdgrab bestattet. Heutzutage entscheiden sich 70 Prozent für ein Urnenbegräbnis. Das ist günstiger, kostet auch weniger Platz. Viele suchen ihre letzte Ruhe auch im Wald; während sie auf dem Friedhof Gräber abräumen, pflanzen sie im Olper Bestattungswald im Vorort Sondern Bäume, um die Nachfrage zu decken, erzählt Paul Henkel.
Die Friedhöfe müssen sich neuen Bestattungsformen stellen, etwa Urnengemeinschaftsgräbern, Kolumbarien oder Rasengräbern. Häufig gefragt sind pflegefreie oder pflegearme Gräber, denn viele möchten ihren Nachkommen nach dem Tode nicht zur Last fallen.
Paul Henkel findet den Wandel der Bestattungskultur einerseits aus beruflicher Perspektive „wahnsinnig aufregend“, weil all die freien Flächen Gestaltungsmöglichkeiten bieten, die es früher nicht gab. Er sprüht nur so vor Ideen, möchte beispielsweise Böschungen mit Muschelkalksteinen und Lavendelsträuchern gestalten und so optisch aufwerten. Oder eine Ausstellungsfläche für alte, prächtige Grabsteine schaffen. Ein Springbrunnen war auch mal eine Überlegung, aber zu teuer... Bänke haben sie bereits aufgestellt, um Aufenthaltsraum zu schaffen.
Andererseits empfindet Henkel den Wandel der Bestattungskultur aber auch als „wahnsinnig herausfordernd“. Die Umgestaltung kostet Zeit, Personal und Geld, außerdem entstehen aufgrund der unterschiedlichen Ruhezeiten der Gräber erwähnte „Zahnlücken“ – die anders als zusammenhängende Freiflächen schwieriger und langwieriger umzugestalten sind.
Der Friedhofsgärtner
Michael Hochstein ist Friedhofsgärtner, seine Gärtnerei liegt am Haupteingang des Kommunalfriedhofs in Olpe. Sein Job ist die private Grabpflege, früher hat er auch im Auftrag der Stadt Gräber ausgehoben. Seine Kernaufgabe – die gärtnerische Gestaltung von Gräbern – sei heute kaum noch gefragt. „Wir“, sagt der 63-Jährige, „ebnen inzwischen mehr Gräber ein, als wir welche gestalten.“ Früher hätten er und sein Team bei jeder zweiten Beisetzung die Grabgestaltung übernommen, jährlich etwa 100. Heute seien es noch circa fünf. Pro Jahr.
Ihm könnte die Entwicklung egal sein, weil er seinen Betrieb zum Jahresende aufgibt, in den Ruhestand geht (an der Stelle seiner Gärtnerei sollen Wohnungen errichtet werden). Ist sie aber nicht. Friedhöfe sollten erhalten bleiben, seien sie doch Erinnerungsorte und Begegnungsstätten, in denen sich viele Leute treffen und kennenlernen würden. „Das darf nicht verloren gehen“, findet Hochstein.
Der Steinmetz
Stefan Lutterbeck, Steinbildhauermeister aus Everswinkel (Münsterland) und Landesinnungsmeister im Bundesverband Deutscher Steinmetze, klingt am Telefon, als sehe er in dem Wandel der Bestattungskultur nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance für sein Handwerk. „Vor allem die Steinmetze, die sich jahrelang mehr als Verkäufer betätigt haben, haben ein Problem. Die Kunden wollen heutzutage individuelle Lösungen. Da zeichnet sich der Handwerker aus, der das umsetzen kann. Der muss kreativ sein und nicht nach Katalog in Indien bestellen. Ich bin nicht so verzweifelt, wie mir suggeriert wird, dass ich es sein müsste“, sagt Lutterbeck.
Er glaubt nicht, dass Friedhöfe verschwinden. Der Trend zu pflegeleichten/-freie Rasengrabflächen oder zu Aschestreufeldern und anonymer Bestattung sei bereits wieder vorbei. „Viele haben gemerkt, sie kommen nicht damit klar, wenn ein Gedenkort fehlt. Wir Steinmetze sind gefordert, Lösungen anzubieten, die von der Pflege zu händeln sind“, sagt Lutterbeck.
Er möchte Gräber, aber auch den Friedhof insgesamt wieder aufwerten, als Trauer- und Begegnungsort. Wenn es nach ihm ginge, würden sogar Spielgeräte für Kinder auf dem Friedhof installiert. „Es ist doch schön, wenn Kinder dort spielen. Das ist das Leben, und der Friedhof ist das Leben“, sagt Lutterbeck.
Der Bestatter
Der Wandel der Bestattungskultur hat auch die Arbeit der Bestatter verändert, so gebe es beispielsweise weniger Trauerfeiern, berichtet Henrik Giesler. Aber laut des Kreuztaler Bestattermeisters wirke sich dieser Wandel wirtschaftlich nicht allzu sehr auf seine Branche aus. „Wir betreuen nach wie vor die Angehörigen, wir führen nach wie vor die Beisetzung durch, auch im Wald. Was anders ist, ist, dass eine Feuerbestattung für Kunden in der Regel insgesamt etwas kostengünstiger ist als eine Erdbestattung, weil man ein kleineres Grab braucht, später weniger Grabpflege erforderlich ist, die Grabsteine meist kleiner sind“, sagt Giesler.
Das Vorstandsmitglied im Bestatterverband NRW empfiehlt, bei der Wahl der Bestattungsart auch an die Angehörigen zu denken. Wer sich beispielsweise für einen Bestattungswald als letzte Ruhestätte entscheide, solle beachten, dass Hinterbliebene im Alter möglicherweise nicht mehr in der Lage seien, die Grabstätte im Wald zu besuchen. „Dann könnte ein Ort fehlen, an dem sie der Verstorbenen gedenken können“, so Giesler.
Auswirkungen auch auf Gebühren
Der Wandel der Bestattungskultur hat auch finanzielle Auswirkungen auf kommunale (oder kirchliche) Friedhofsträger. „Wenn sich der Trend weg von der Erdbestattung, bei der grundsätzlich höhere Gebühren verlangt werden als bei einer Urnenbestattung, fortsetzt, kann es dazu kommen, dass die Gebührenkalkulation der Kommune für einen Friedhof neu vorgenommen werden, in den meisten Fällen also erhöht werden muss“, sagt Milena Magrowski, Referentin beim Städte- und Gemeindebund NRW.
Trotz der Herausforderungen kann sie sich nicht vorstellen, dass Friedhöfe aus den Kommunen verschwinden oder im großen Stil etwa zu Bauland umgewidmet werden. Das habe zum einen mit Klimaschutzaspekten zu tun. Friedhöfe seien meist zentrale Orte in den Kommunen, mit Baumbestand, spendeten im Sommer Schatten, sorgten für ein besseres Klima als in dichtbebauten Teilen der Innenstadt. Zum anderen seien Kommunen verpflichtet, ausreichend Bestattungsfläche vorzuhalten. „Wenn ich einen Großteil der Bestattungsfläche wegnehme, die Sterbezahlen dann aber ansteigen, müssten die Kommunen anderswo Bestattungsflächen zur Verfügung stellen. Ein Blick auf die Alterspyramide zeigt, dass die Zahl der Todesfälle in den kommenden Jahren steigen wird. Entsprechend wird es einen größeren Anstieg an Bestattungen geben“, erklärt Magrowski.