Lüdenscheid. Mehr als 20 Männer sollen in Lüdenscheid Opfer von sexueller Gewalt in einer Jugendgruppe der evangelischen Kirche geworden sein.
Mehr als 20 Männer haben sich bei der Evangelischen Kirchengemeinde Brügge in Lüdenscheid gemeldet und von sexuellen Übergriffen eines ehrenamtlichen Mitarbeiters der Gemeinde berichtet. Das ist am Mittwochabend bei einer virtuellen Gemeindeversammlung bekannt geworden.
Fast 30 Jahre lang soll der Mann seit Mitte der 80er-Jahre Jungen in einer Jugendgruppe sexuelle Gewalt angetan haben. Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe im Sommer hatte er sich das Leben genommen. Damit endeten die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, da gegen Tote nicht ermittelt wird. Die innerkirchliche Aufarbeitung läuft aber weiter.
Unter anderem mit einem Interventionsteam, in dem auch die Ev. Kirche von Westfalen vertreten ist. Ein Ergebnis: Es habe zwar nur einen Beschuldigten gegeben, der sich der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung schuldig gemacht habe. Es habe aber weitere Verantwortliche gegeben, die nach derzeitigen Erkenntnissen eine Pflichtverletzung begangen hätten. Inzwischen seien Disziplinarverfahren gegen Pfarrer eröffnet. Die Gemeindeleitung hat die Betroffenen inzwischen in einem Brief um Verzeihung gebeten. Sich um die Opfer zu kümmern, soll auch weiter eine Hauptaufgabe sein.
Kirche will die Vorwürfe umfassend aufklären
Im Juli 2020 war bekannt geworden, dass ein ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Kirchengemeinde, und vormals im CVJM Lüdenscheid-West, seit Mitte der 80er Jahre fast 30 Jahre lang Jungen in einer Jugendgruppe sexuelle Gewalt angetan haben soll. Eine Andacht stand am Anfang der virtuellen Gemeindeversammlung, dann gab es den Bericht zum Stand der Aufarbeitung von Alfred Hammer, einst Superintendent im Kirchenkreis Arnsberg, jetzt im Ruhestand Vorsitzender des Interventionsteams. Das Interventionsteam - bestehend aus Mitgliedern der Ev. Kirchengemeinde Brügge, des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, der Ev. Kirche von Westfalen (EKvW) und dem Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe - arbeitet seit Juli 2020 an der Aufarbeitung und Aufklärung der Beschuldigungen.
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Diese Arbeit umfasst Gespräche mit Betroffenen, Schulungsangebote für die Jugendlichen/Teamer der ehemaligen Jungenschaft und Erarbeitung von Eckpunkten für eine zukünftige Jugendarbeit der Kirchengemeinde. Zudem arbeitet das Interventionsteam in der Beratung des Presbyteriums bezüglich der zukünftigen Gemeindearbeit und bringt sie auf den Weg.
Disziplinarverfahren gegen Pfarrer wurden eingeleitet
Besonderen Fokus bei der gesamten Aufarbeitung lege das Interventionsteam darauf Verantwortlichkeiten zu identifizieren und die Verantwortlichen zu benennen, so die Evangelische Kirche. Dabei habe das Interventionsteam die klare Erkenntnis gewonnen: Es gebe zwar nur einen Beschuldigten, der sich der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung schuldig gemacht habe. „Es gab aber weitere Verantwortliche, die nach derzeitigen Erkenntnissen eine Pflichtverletzung begangen haben. Dies wurde durch das Interventionsteam identifiziert und benannt. Es wurden Indizien und Beweise zusammengestellt und an die beschlussfassenden Gremien weitergereicht.“
Das sind für die Kirchengemeinde Brügge das Presbyterium, den Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg der Kreissynodalvorstand und für die Evangelische Kirche von Westfalen das Landeskirchenamt. Es wurden auf der Ebene der Landeskirche Disziplinarverfahren gegen Pfarrer eröffnet. „Es gibt ein hohes Maß an Aufklärungsinteresse“, so die Kirche. Dieses müsse aber abgewogen werden gegen die Rechte der Beschuldigten. Jedem Beschuldigten sei eine sorgfältige Prüfung geschuldet. Das gelte auch für den Vorwurf, Verantwortliche in der Kirchengemeinde hätten von Taten gewusst und tatenlos geschwiegen. Auch dies müsse nachgewiesen werden.
Kirche: Opfer haben Recht auf Aufklärung
Die Opfer hätten ein Recht auf Aufklärung, damit das Geschehene aufgearbeitet werden könne. „Diese haben in ihren Berichten und mündlichen Äußerungen zu dem, was ihnen angetan worden ist, auch Namen von möglichen Mitwissenden genannt“, heißt es in einer Mitteilung. „Nun müssen hierzu Schuld,Versäumnisse bzw. Pflichtverletzungen festgestellt werden.“ Das tun in diesem Fall kirchliche Gerichte, denn für die staatlichen Behörden gilt mit dem Suizid des Beschuldigten, dass es keinen Täter mehr gibt. Damit sind Ermittlungen und Aufklärung von staatlicher Seite beendet worden. „Die Kirche aber will weiter Aufklärung, Aufarbeitung und alles Mögliche tun, damit die Beschuldigten Gerechtigkeit erfahren“, so die evangelische Kirche weiter. „Klar ist, dass eine Wiedergutmachung - im wahrsten Sinne des Wortes - der schrecklichen Vorkommnisse unmöglich ist. Aber es gibt das gute Recht, die sexuelle Gewalt, die Menschen erfahren haben, aufzuklären und aufzuarbeiten.“
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Die Schilderungen der Ereignisse durch Betroffene habe die Ausmaße der schrecklichen Vorkommnisse immer weiter deutlich gemacht. Dies habe die Gemeindeleitung unter anderem dazu bewogen, im Februar an alle Betroffene einen persönlichen, nicht öffentlichen Brief zuschreiben. Auch wenn es nach heutigem Kenntnisstand, und auch nach den abgeschlossenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, nur einen Täter gab, habe die Gemeinde auch Versagen und Schuld zu verantworten: „Hierfür hat die Gemeindeleitung die Betroffenen in dem Brief aufrichtig um Verzeihung gebeten.“
Es habe den Missbrauch durch eine Person in einer Jugendgruppe in der Gemeinde gegeben, heißt es von Seiten der Evangelischen Kirche: „Man weiß heute aber auch: Es gab ein System, das Missbrauch nicht verhindert und so lange möglich gemacht hat. Hier muss das Presbyterium und die gesamte Gemeinde weiter gründlich hinschauen, um die Ursachen zu finden und daraus die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen.“