Hannover. In der ev. Kirche werden Missbrauchs-Opfer übersehen. Die wortreiche protestantische Harmoniesucht öffnet Freiräume für Täter.
Die evangelische Kirche macht beim Umgang mit Missbrauchsopfern noch mehr falsch als die katholische. Zu dieser bitteren Bilanz kommt die erste protestantische Missbrauchsstudie. Nicht der gottgleiche Priester, dessen Verhalten unantastbar ist, stellt hier ein Risiko dar. Stattdessen sind es Strukturen, die Verantwortlichkeit verhindern, in denen Probleme und Konflikte so lange zerredet werden, dass Betroffene vor die Wand laufen. Im Schutze der vielen Worte entstehen Freiräume für die Täter.
Während bei den Katholiken nicht die Tat als das Problem gilt, sondern der Ansehensverlust des Priesters, wird bei den Protestanten die Störung der innergemeindlichen Harmonie als Problem aufgefasst. In beiden Kirchen haben sich also Kulturen entwickelt, in denen Opfer als Störenfriede ausgegrenzt werden können und ihr Leid nicht gesehen wird.
Und auch bei Luthers Erben bestätigt sich, dass Machtstrukturen Gewalt begünstigen. Diese Machtgefälle bestehen sogar innerhalb einer demokratischen protestantischen Selbstverwaltung, sind aber schwerer zu durchschauen. Denn der typische protestantische Pfarrer ist wortgewandt und verfügt über hohe theologische Deutungskompetenz, zwei Eigenschaften, die als Mittel zur Manipulation und Anbahnung dienen können. Die meisten Beschuldigten sind Männer, zwei Drittel von ihnen sind verheiratet: Dieses Forschungsergebnis entzieht allen katholischen und protestantischen Hardlinern den Boden, die immer noch argumentieren, sexuelle Gewalt sei die Funktion eines „liederlichen“ homosexuellen Lebenswandels.