Hagen/Lüdenscheid. Erst werden Missbrauchsvorwürfe laut, dann bringt sich der Beschuldigte um. Wie eine evangelische Kirche im Sauerland das aufarbeiten muss.
Absolutes Verfahrenshindernis. In der Juristen-Sprache gibt es zwei klare Worte für den Schlussstrich. Wenn ein Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren stirbt, dann wird die Akte zugemacht, dann endet das Verfahren. Dann bleibt offen, ob die Vorwürfe tatsächlich stimmen oder nicht. Denn der Tod ist eben auch das: ein absolutes Verfahrenshindernis. Für die Juristen jedenfalls, für die Kirche gilt das nicht. Ganz im Gegenteil.
Und so endet auch das, was den Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg und auch den CVJM Lüdenscheid-West im Sauerland so tief getroffen hat, nicht mit dem Tod des Beschuldigten. Die Arbeit steht erst am Anfang. Über Jahre hinweg soll ein ehrenamtlicher Mitarbeiter in einer Jugendgruppe beim CVJM und in einer Kirchengemeinde Jugendliche sexuell missbraucht haben. Nur Stunden, nachdem der Vorwurf – anonymisiert, ohne Nennung von Namen oder Alter – durch eine dürre Polizeimeldung öffentlich geworden war, nahm sich der Mann das Leben. Und die Erschütterung in der ohnehin schon vorhandenen Erschütterung war riesig.
Sprachlosigkeit nach der Todesnachricht
„Wir waren sprachlos, als wir die Nachricht am Morgen danach erfahren haben“, sagt Alfred Hammer. „Und erst einmal gar nicht arbeitsfähig.“ 67 Jahre ist Hammer alt, Ende 2018 ist der evangelische Geistliche in den Ruhestand verabschiedet worden, nach vielen Jahren als Pfarrer in Marsberg und als Superintendent des Kirchenkreises Arnsberg. Doch jetzt ist er der Leiter des Krisenstabs im Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg. Auf Bitten von Annette Kurschus, der Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen. Und nun hat er noch einmal mit den ganz elementaren Fragen der Kirche, des christlichen Glaubens zu tun. Es geht um Seelsorge, um Betroffenheit, aber auch um Schuld.
An seiner Seite steht eine Reihe von Mitarbeitern im Krisenstab, allen voran Daniela Fricke. „Beauftragte der Evangelischen Kirche in Westfalen für Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung“ lautet ihr offizieller Titel. Seit zwei Jahren ist sie im Amt. Und an sie hatten sich vor einigen Wochen auch die fünf Männer gewandt und berichtet über sexuelle Übergriffe während einer traditionellen Jugendfreizeit. Die lagen schon Jahre zurück, aber erst jetzt, im Erwachsenenalter, als sie sich wieder trafen und über die Zeit und die Vorfälle sprachen, wagten sie den Weg zu der kirchlichen Beauftragten. Daniela Fricke leitete die Schritte ein, die die kirchlichen Richtlinien inzwischen vorgeben: Ein offensives Vorgehen mit solchen Vorwürfen.
Eine Gratwanderung zwischen Persönlichkeitsrechten und Aufarbeitung
Der Krisenstab wurde schon lange vor dem öffentlichen Bekanntwerden der Vorwürfe im August gebildet. „Wir wären von uns aus auch schneller an die Öffentlichkeit gegangen, um klar zu sagen: Hier ist ein Fall“, sagt Alfred Hammer. „Die Polizei hat uns aber gebeten, dies aus Ermittlungsgründen nicht zu tun.“ Dass sie schnell informieren wollten, halten Alfred Hammer und Daniela Fricke auch jetzt, mit dem Wissen um den Tod des Beschuldigten, noch generell für richtig. „Natürlich ist das eine Gratwanderung“, so Daniela Fricke. „Es gibt die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen auf der einen Seite, aber auch die Notwendigkeit, transparent und konsequent zu handeln.“
Und dennoch ist beiden das Entsetzen über den Suizid des Beschuldigten auch Tage später noch anzumerken. „Im Krisenstab war es eine Schockstarre“, sagt Alfred Hammer. „Und so ging es auch den Betroffenen, die sich mit den Vorwürfen an mich gewandt hatten“, sagt Daniela Fricke. „Sie hat die Entwicklung tief getroffen.“
Noch erheblich mehr Betroffene haben sich gemeldet
Den Schlussstrich, den die Juristen ziehen, kann die Kirche schon deshalb nicht ziehen, weil es eben diese Betroffenen gibt. Auch mehr als die fünf, die den Stein ins Rollen gebracht haben. Indirekt betroffene Bürger, die angesichts der Vorwürfe verunsichert sind, die sich fragen, ob auch ihre Kinder oder Enkel Opfer geworden sein könnten. Aber auch direkt Betroffene, die inzwischen selbst von sexuellen Übergriffen berichtet haben. „Heute wissen wir, dass es deutlich mehr Betroffene aus unterschiedlichen Zeitspannen gibt“ , sagt Daniela Fricke. Weil die Sache jetzt öffentlich ist, weil nun auch untereinander geredet wird, reden sie jetzt auch über die Fälle, über die sie lange geschwiegen haben.“
Was sie, was Alfred Hammer und alle Mitstreiter den Betroffenen immer wieder deutlich machen müssen: Sie können und werden keine Ermittlungen führen, sie können nicht urteilen, ob und wie diese Taten tatsächlich stattgefunden haben. „Wir können in keinster Weise die Arbeit von Polizei und Staatsanwalt ersetzen“, sagt Alfred Hammer. Aber man könne Betroffenen zuhören, Hilfe anbieten und untersuchen, ob es strukturelle Defizite gab, die mögliche Missbrauchshandlungen erst möglich gemacht haben und aus denen man Konsequenzen ziehen kann.
„Mir ist wichtig, den Betroffenen die Botschaft zu senden: Nichts von dem, was ihr sagt und erlebt habt, geht verloren“, sagt Daniela Fricke. Und die Menschen nehmen das Angebot an. Viele sind etwa zur Gemeindeversammlung gekommen. Ruhig sei es dort zugegangen, sagt Pastor Hammer. Vorwürfe seien nicht laut geworden.
Der Umgang mit dem Beschuldigten
Die seelsorgerischen Strukturen für die Betroffenen stehen also. Diese, so Pastor Hammer, seien auch im Fokus der Arbeit des Krisenstabs. Aber was ist mit dem verstorbenen Beschuldigten? Wie geht die Kirche um mit der Frage von Schuld und Vergebung. „Das ist eine theologische Kernfrage“, sagt Pastor Hammer. „Aber wir haben nicht den Stab zu brechen. Im Kern unseres Glaubens spielt eine Rolle, dass irgendwann alle Schuld gehen kann. Das zu entscheiden, ist aber nicht die Sache eines Menschen, das ist die Sache dessen, an den wir glauben.“ Den Schlussstrich kann nur Gott ziehen.
>> HINTERGRUND: Medien werden ausgewertet
- Gegen den verstorbenen Beschuldigten wird zwar nicht mehr ermittelt. Sehrwohl werden aber noch beschlagnahmte Medien ausgewertet.
- „Es könnten sich daraus theoretisch noch Hinweise auf weitere Straftaten oder Tatverdächtige ergeben“, so der Hagener Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli.
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