Hagen. Sexismus-Vorwürfe: Meistens trifft es Darstellungen von bloßen Brüsten. Die einen sehen die Moral gefährdet, die anderen Frauenrechte.

Bilder haben Macht. Deshalb wird Kunst immer wieder zum Ziel von politisch, ideologisch oder religiös motivierten Manipulationen oder Zensur. Ein besonders beliebtes Spielfeld von Sehverboten ist der nackte Körper, vor allem der weibliche. Gerade im Zuge von gesellschaftlichen Bewegungen wie „MeToo“ und den postkolonialen Studien mehren sich in jüngster Zeit Befindlichkeiten gegenüber Bildern, die Frauen zeigen. Während Konservative bei der Darstellung von Brustwarzen und Schamhaaren um die Moral ihrer Gefolgschaft fürchten, bezichtigen progressive Tugendwächter die Maler nackter Frauen des Sexismus‘. Gemeinsam haben beide Richtungen eines: Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie mit solchen Aktionen nicht ein Verschwinden von Frauenbildern aus dem öffentlichen Raum in Museen, Universitäten und Plätzen provozieren.

Verschwinden aus dem öffentlichen Raum

Viel Kritik muss die Fernuniversität Hagen derzeit für ihren Eingriff in ein Glasgemälde von Hans Slavos (1900 - 1969) einstecken. Die Fernuni hat das Bild mit einer Milchglasscheibe verhängt, nachdem Mitarbeitende Unwohlsein wegen des Motivs, eines halbnackten Frauenkörpers angemeldet hatten. Das Bild von 1952 ist eine märchenhafte Allegorie, es zeigt zwei schwarze Kaffeepflückerinnen, eine davon mit nacktem Oberkörper. Die Aktion ist auch innerhalb der Hochschule selbst umstritten.

Überkommenes Frauenbild? Die Figur „Primavera“ steht nach dem Abbau im Büro des Gebäudemanagements der Europa-Universität Flensburg. Aus dem Foyer wurde sie nach Kritik der Gleichstellungsbeauftragten entfernt. Inzwischen ist sie an ihren alten Platz zurückgekehrt.
Überkommenes Frauenbild? Die Figur „Primavera“ steht nach dem Abbau im Büro des Gebäudemanagements der Europa-Universität Flensburg. Aus dem Foyer wurde sie nach Kritik der Gleichstellungsbeauftragten entfernt. Inzwischen ist sie an ihren alten Platz zurückgekehrt. © dpa | Antje Walther

Verhüllen oder gleich ganz abhängen? Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit nackten Frauen immer wieder. Erst im Juli hatten sich Studierende und Forschende an der Universität Flensburg beim Anblick einer nackten Frauenskulptur unwohl gefühlt. Die Gartenplastik „Primavera“ von Fritz During (1910 - 1993) zeigt eine nackte Frau mit breiter Hüfte und über dem Kopf verschränkten Armen. Die Bronze stand im Foyer des Universitätsgebäudes; die Universitätsleitung ließ sie entfernen, nachdem die Gleichstellungsbeauftragte die Arbeit kritisiert hatte. Sie würde ein überkommenes Frauenbild darstellen und wäre im Eingangsbereich einer Hochschule fehlplatziert. Die Studierendenvertretung kritisierte die Entfernung, die Skulptur ist einstweilen an ihren angestammten Platz zurückgekehrt. Einige Studentinnen hätten sich beschwert: „Warum müssen wir eine nackte Frau denn immer gleich sexualisieren?“

Sexuell selbstbestimmte Nymphen

Um die Deutungshoheit über nackte Kunst ging es auch im Jahr 2018 in der Manchester Art Gallery. Dort sorgte eine viktorianische Männerphantasie für hitzige Debatten. Die Kuratorin des Museums hatte „Hylas und die Nymphen“ von John William Waterhouse (1849 - 1917) abgehängt, um eine Diskussion über Sexismus anzuregen. Das Gemälde von 1896 zeigt, wie die antike Sagengestalt des Hylas von nackten Nymphen in einen Teich gelockt wird. Im Unterschied zu den rechtlosen Frauen des überaus prüden viktorianischen Zeitalters sind die Nymphen auf dem Gemälde sexuell selbstbestimmte und aktive Geschöpfe, eine Vorstellung, die bei den Männern der Epoche heftige Angstlust ausgelöst haben dürfte. Die Abhängung kam nicht gut an. Nach erheblichen Protesten und Vorwürfen der Zensur und Bevormundung musste das Museum das Gemälde wieder an seinen Platz bringen.

Das berühmteste verhängte Gemälde der Welt ist heute schwer bewacht im Musee d‘Orsay in Paris zu sehen. „Der Ursprung der Welt“ (1866) von Gustave Courbet (1819-1877) ermöglicht den Blick auf die Scham einer liegenden Frau. Der Betrachter blickt direkt zwischen die gespreizten Schenkel, der Akt endet knapp unterhalb der Brust, ein Gesicht hat die Protagonistin nicht. Courbet malte das Bild als Auftragsarbeit für einen türkischen Diplomaten und Kunstsammler in Paris. Als der es verkaufen musste, ging es an einen Pariser Antiquitätenhändler, der es hinter einer bemalten Holzplatte versteckte. Auch weitere Besitzer verbargen das Werk hinter einer Holzschiebelade. Erst 1988, fast 100 Jahre nach seiner Entstehung, wurde das Gemälde erstmals öffentlich ausgestellt, in New York. Seit 1995 ist „Der Ursprung der Welt“ in Paris zu sehen. Das Bild gilt als Wendepunkt der Kunstgeschichte. Auch dieses Motiv spielt mit den Ängsten der männlichen Betrachter, welche Frauen zwar für ihre Lust benutzen, die weibliche Scham aber häufig nicht ansehen möchten und die Tatsache abspalten, dass alles menschliche Leben diesen Weg nehmen muss. Bis heute ruft das Bild heftige Reaktionen beim Publikum hervor. Deshalb wird es permanent bewacht.

Vergewaltigung als Kriegswaffe

Der Schweizer Künstlerin Miriam Cahn (geb. 1949), Siegener Rubenspreisträgerin 2022, fehlt in Courbets „Ursprung der Welt“ ein entscheidendes Detail: die weibliche Klitoris. Sie interpretiert Courbets Motiv mit kritisch-feministischem Blick neu. In ihrer Arbeit „L‘origine du monde schaut zurück“ wird nicht das Gemälde verhüllt, sondern der Kopf der Protagonistin, die eine hochgeschobene Burka trägt.

Heftige Diskussionen hat im Frühjahr in einer Pariser Ausstellung ein weiteres Bild von Miriam Cahn ausgelöst: „Fuck Abstraction“ zeigt Vergewaltigung als Kriegswaffe. Eine kräftige männliche Figur zwingt eine kleine gefesselte Figur zur Fellatio, während sie eine zweite, schmächtige Figur festhält. Darin verarbeitet die Künstlerin Gräueltaten aus dem Ukrainekrieg. Französische Aktivisten wollten gerichtlich die Entfernung des Gemäldes aus der Ausstellung erzwingen, das ihrer Ansicht nach Vergewaltigungsopfer verhöhne, es gab Morddrohungen, ein ehemaliger Front-National-Politiker überschüttete das Kunstwerk zuletzt mit violetter Farbe – das Museum hatte auf einen vorgehängten Glasschutz verzichtet.

Ist Kunst nur Dekoration?

„Fuck abstraction“ steht beispielhaft für die extremen Pole der aktuellen Bilderstreite. Einerseits muss Kunst mit Glasschilden vor Angriffen geschützt werden, andererseits verlangt eine neue Generation von Tugendwächtern ihre Verhüllung. Zensur und Bevormundung sollen damit als emanzipatorische Aktion legitimiert werden. Dahinter verbirgt sich möglicherweise eine Auffassung, die Kunst in erster Linie als Dekoration begreift und nicht als Verstörung von Sehgewohnheiten. Kann ein Bild sexistisch sein, wenn es eine Situation darstellt, die im realen Alltag vorkommt? Ist es sexistisch, wenn bei bestimmten Besuchergruppen sexuelle Phantasien oder Befindlichkeiten angeregt werden? Wer bestimmt, ob der nackte weibliche Körper ein ideologisches Schlachtfeld ist, das dem Betrachter nicht unverhüllt präsentiert werden darf? Und welche Folgen hat es für das Frauenbild, wenn nackte Frauen in der Öffentlichkeit verhüllt werden müssen?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man nur darüber nachdenken, wie die Fernuniversität Hagen oder die Universität Flensburg reagieren würden, wenn die Forderung nach einer Seh-Beschränkung von Kunstwerken mit nackten Frauen aus der islamistischen oder rechtsradikalen Ecke kommen würden.

Männerphantasien

Das Kölner Wallraf-Richartz-Museum hat jüngst eine viel beachtete Ausstellung zum biblischen Motiv der Susanna im Bade gezeigt. Viele Susanna-Gemälde der Alten Meister zeigen Vergewaltigungen. Das Museum hat dabei mit Triggerwarnungen gearbeitet. Solche Triggerwarnungen sind im Kunstbetrieb höchst umstritten, denn Malerei und Skulptur wollen ja die Realität nicht fotografisch dokumentieren, sondern interpretieren, und das auf mehreren Erkenntnisebenen. Entscheidend allein ist die Sicht des Betrachters. Im viktorianischen Zeitalter galten selbst die Beine eines Flügels als unanständig und mussten verhüllt werden. Und die Frage, wie viel unverstellten Blick und sehende Mündigkeit eine Gesellschaft dem Betrachter zutraut, um sich selbst ein Bild zu machen.