Bielefeld. Wegen des „Falls Siegen“ tritt EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus von allen Spitzenämtern zurück. Unter Tränen und mit klaren Worten.
Sie ging mit einem Knall, das ist auch wörtlich zu verstehen. Als Annette Kurschus am Montag nach ihrem doppelten Rücktritt und mit einigen Tränen in den Augen den Großen Saal im Landeskirchenamt in Bielefeld verließ, da schlug die Tür deutlich hörbar zu.
Lediglich acht Minuten dauerte ihr Auftritt. Vor etlichen Journalisten, Kamerateams und Fotografen, aber auch Kirchen-Mitarbeitern erklärte die – nun ehemalige – oberste Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und – nun ehemalige – Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen (EKvW) wegen des „Falls Siegen“ und zum Schutze der Kirche ihren sofortigen Rücktritt von beiden Ämtern.
Der Schritt – er wirkt wie in anderen Bereichen die Übernahme der politischen Verantwortung – fiel Kurschus schwer. Das gestand sie, und das war ihr auch anzumerken. Die 60-Jährige, die eine vorbereitete Erklärung vortrug und anschließend nicht für Fragen der Journalisten zur Verfügung stand, blieb allerdings bezüglich des Kerns der Vorwürfe weitgehend bei ihrer Position, setzte sich noch einmal mit klaren Worten zur Wehr und trat mit den Worten ab: „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen. Und so gehe ich sehr traurig, aber ich gehe getrost und aufrecht.“
Glaubwürdigkeit ausschlaggebend
Eben diese Aufrichtigkeit war seit Tagen Gegenstand einer Debatte. Kurschus hatte sich gegen Recherchen der „Siegener Zeitung“ gewehrt. Demnach soll sie bereits Ende der 1990er Jahre während ihrer Dienstzeit in Siegen (1989 bis 2013) über Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens eines inzwischen verrenteten Kirchenmitarbeiters gegenüber jungen Männern informiert gewesen sein, habe diese aber nicht gemeldet. Kurschus, die behauptet, sich nicht an derartige Äußerungen bei einem Treffen in der Angelegenheit erinnern zu können, und der Beschuldigte kennen sich gut. Dass sie ihre freundschaftliche Verbindung zu der Familie des Beschuldigten (die sie am Montag bestätigte) jedoch zunächst nicht klar benannt, sondern dies erst nach weitergehender Berichterstattung der Siegener Zeitung eingeräumt hatte, untergrub ihre Glaubwürdigkeit. Auch in Teilen der EKD wurde der obersten Vertreterin eine Salamitaktik vorgeworfen.
Kurschus widersprach am Montag Vorwürfen, sie habe etwas vertuschen wollen. Vielmehr sei es ihr „aufrichtig“ um den Schutz der Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten und dessen Familie gegangen. Des Weiteren erklärte Kurschus, die in Siegen als Pfarrerin und später als Superintendentin gewirkt hatte, dass sie „nie“ zu dem Beschuldigten in einem Dienstverhältnis gestanden habe. Außerdem: Sie wünsche sich, dass sie bereits vor 25 Jahren „so aufmerksam, so geschult und so sensibel“ für Verhaltensmuster gewesen sei, die sie heute „alarmieren“ würden. Aber „ich habe allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen“.
Ob strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, ist noch offen (die Staatsanwaltschaft Siegen hält dies aktuell für eher unwahrscheinlich). Unabhängig davon aber ging es in der Causa zuletzt vor allem um Glaubwürdigkeit. In erster Linie um die Glaubwürdigkeit der obersten Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland, die den Kampf gegen sexuellen Missbrauch und die Aufarbeitung von derartigen Fällen bei ihrem Amtsantritt zur „Chefinnensache“ gemacht hatte; Kurschus stellte jedoch klar, dass sie nicht wegen eines Fehlverhaltens zurücktrete, sondern weil sie ihr Amt aufgrund des verlorengegangenen Vertrauens nicht mehr wie erforderlich ausüben könne. „Deshalb und nur deshalb trete ich mit sofortiger Wirkung zurück“, betonte sie, die seit 2012 Präses und damit leitende Geistliche der Westfälischen Landeskirche ist und 2021 an die Spitze des EKD-Rates gewählt wurde.
Tränen und bebende Stimme
Es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit der gesamten evangelischen Kirche und die Glaubwürdigkeit beim Bemühen dieser Institution um Aufklärung und Aufarbeitung sexueller Missbrauchsvorwürfe. „Inzwischen hat die Frage nach meiner Glaubwürdigkeit öffentlich eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass eine absurde und schädliche Verschiebung eingetreten ist. Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person. Das muss endlich aufhören“, so Kurschus, deren angegriffene Glaubwürdigkeit auch einen lediglich halben Rücktritt – sprich: den Verbleib im Amt als Präses der Westfälischen Landeskirche – nicht erlaube.
„Die Enttäuschten wissen: Ich kann meinen Dienst nicht wirksam tun, wenn meine Aufrichtigkeit öffentlich angezweifelt und immer wieder jeden Tag infrage gestellt wird“, sagte Kurschus, deren Stimme bebte und deren Augen feucht wurden, als sie beinahe trotzig erklärte: „Ich habe die Aufgaben in beiden Ämtern mit Leidenschaft und Herzblut wahrgenommen, in einer Redlichkeit, die ich mir auch hier und jetzt von niemandem – von niemandem! – absprechen lasse.“ Da erntete sie Applaus von den Mitarbeitern unter den Zuhörern im Großen Saal des Landeskirchenamts.
„Schwarzer Tag“ für die evangelische Kirche
Die Leitung der Landeskirche übernimmt kommissarisch Ulf Schlüter. Der Theologische Vizepräsident bezeichnete die Entscheidung von Kurschus als „klug und richtig“, da man andernfalls weiteres Vertrauen hätte verlieren können. Schlüter sagte aber auch: „Es ist ein schwarzer Tag, der die ganze evangelische Kirche erschüttert.“
Die Sprecher der Betroffenenvertretung und der kirchlichen Beauftragten des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD nahmen den Rücktritt von Kurschus „mit Respekt zur Kenntnis“. Die Entscheidung „schützt unsere Arbeit vor weiteren Belastungen. Auch dafür sind wir dankbar“, hieß es in einer Mitteilung.
Und weiter: „Die Rücktritte können ebenso den weiteren Prozess der Aufklärung – auch bezüglich der Vorwürfe gegen ihre Person – unterstützen. Es existiert nach wie vor ein Widerspruch der Darstellungen zu diesem Aspekt des Falles, der durch unabhängige Fachleute untersucht werden muss.“