Siegen/Bielefeld. Vorwürfe zu sexuellen Übertritten in Siegen: Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, gibt ihren Rücktritt bekannt.
Nach vielen Spekulationen am Wochenende gibt es nun Gewissheit: Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat am Montagvormittag um 11 Uhr in Bielefeld ihren Rücktritt verkündet. Auch ihr Amt als Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen legt sie nieder.
Die Hintergründe: Binnen weniger Tage ist die 60-Jährige enorm unter Druck geraten in einem Fall, der schon Jahre zurückliegt. In Siegen steht ein Kirchenmitarbeiter unter Verdacht, deutlich jüngeren Männern ungewollte sexuelle Avancen gemacht zu haben. Die Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt derzeit noch, ob auch ein heute noch strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt - die Tendenz geht eher nicht dahin. Die für Annette Kurschus, die in Siegen lange Jahre als Pfarrerin und Superintendentin tätig war, entscheidende Frage ist: Seit wann hat sie von den Vorwürfen gewusst? Tatsächlich erst, wie sie seit Bekanntwerden der Vorwürfe sagt, seit Anfang dieses Jahres? Oder wurde sie schon, wie zwei Zeugen gegenüber der Siegener Zeitung berichten, Ende der 90er-Jahre über die Vorwürfe gegen den ihr auch privat gut bekannten Mitarbeiter unterrichtet? Und wieviel Kredit hat sie noch innerhalb der Kirche nach ihrem bisherigen Kommunikationsverhalten in dem Fall?
In einem knapp achtminütigen Statement sagt Kurschus: „Die evangelische Kirche von Westfalen und in Deutschland sind seit Jahren Mittelpunkt meines Lebens, nicht nur meine Tage, auch mein ganzes Denken und Handeln sind davon bestimmt. Daran hat sich nichts geändert. Was sich geändert hat: In den vergangenen Tagen haben sich die Ereignisse überschlagen, aus einem zunächst rein lokalen und regionalen Vorgang wurde ein Fall von bundesweiter Bedeutung gemacht. Inzwischen hat sich die Lage derart zugespitzt, dass es nur eine Konsequenz gibt für mich, um Schaden von meiner Kirche abzuwenden. Ich trete von beiden kirchlichen Leitungsämtern zurück.“
Weiter erklärt die 60-Jährige: „In der Sache bin ich mit mir im Reinen. Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Seit mehr als einer Woche wird in der Öffentlichkeit ein Konflikt geschürt, ein Konflikt zwischen Betroffenen von sexualisierter Gewalt und mir als Amtsträgerin. Auch wenn das viele von mir erwarten, diesen Konflikt kann und werde ich nicht öffentlich austragen. Ich möchte das schon deshalb nicht tun, weil es die Erfolge gefährden könnte, die wir in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen über viele Jahre errungen haben und die es weiter zu erringen gilt. Für die Menschen, die da an der Arbeit sind, stehe ich. Denen will ich nicht mit Schlagzeilen durch einen Verbleib im Amt schaden.“
Zu den Vorwürfen gegen den Siegener Kirchenmitarbeiter sagt Kurschus: „Der Verdacht richtet sich gegen einen Mann, mit dessen Familie ich lange befreundet war. Nie stand ich zu ihm in einem Dienstverhältnis. Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, so geschult und so sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden. Ich habe allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen.“
Ihr sei es nie darum gegangen, etwas zu vertuschen: „Mein aufrichtiges Bemühen darum, Persönlichkeitsrechte zu schützen – auch beschuldigte Menschen und deren Familien sind und bleiben Personen mit Rechten – dieses Bemühen wird als mangelnde Transparenz kritisiert, als Versuch, meine Haut zu retten oder mein kirchliches Amt zu schützen. Das ist umso bitterer, als dass es mir niemals – und das betone ich ausdrücklich - niemals darum ging, mich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen oder wichtige Fakten zurückzuhalten, Sachverhalte zu vertuschen oder gar einen Beschuldigten zu decken.“
Der Fokus dürfe in dieser Angelegenheit nicht auf ihrer Person liegen, kritisiert Kurschus: „Inzwischen hat die Frage nach meiner Glaubwürdigkeit öffentlich eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass eine absurde und schädliche Verschiebung eingetreten ist. Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person. Das muss endlich aufhören. Es zieht die Aufmerksamkeit von dem ab, was nun dran ist, die Aufmerksamkeit von den Betroffenen, von der Aufklärung des Unrechts, das denen angetan wurde. Davon ist gar keine Rede. Um diese Aufklärung geht es aber doch. Diese Aufklärung gehört in den Fokus.“
Der Rücktritt von ihren Ämtern erfolge augenblicklich: „In aller evangelischen Freiheit zu gesellschaftlichen Fragen pointiert Stellung zu nehmen, theologisch auch Unbequemes klar beim Namen zu nennen – all das und so vieles mehr wird mir durch die aktuelle Entwicklung künftig nicht mehr möglich sein, jedenfalls nicht mehr so möglich, wie es die Ämter einer Ratsvorsitzenden und einer westfälischen Präses verlangen und wie es mir selbst am Herzen liegt. Deshalb und nur deshalb trete ich mit sofortiger Wirkung von den Ämtern der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen zurück.“
Dieser Schritt falle ihr nicht leicht, wie Kurschus erklärt: „Ich habe ihn reichlich geprüft, es ist eine schwerwiegende Entscheidung, nicht zuletzt für mich persönlich. Gern hätte ich mir dafür mehr Zeit gelassen, aber unserer westfälischen Kirche steht Ende dieser Woche die Tagung der Landessynode bevor, da muss Klarheit herrschen für die weitere Planung.“ Dennoch habe sie in ihren Ämtern stets nach bestem Gewissen gehandelt, betont sie: „Ich habe die Aufgaben in beiden Ämtern mit Leidenschaft und Herzblut wahrgenommen, in einer Redlichkeit, die ich mir auch hier und jetzt von niemandem – von niemandem - absprechen lasse.“
Das Vertrauen in ihre Person sei zu stark erschüttert, als dass sie weiter in ihren Ämtern tätig sein könne, betont die 60-Jährige: „Der Dienst, der hier zu tun ist, lebt nicht allein von dem Vertrauen, das einzelne Menschen in mich setzen. Es setzt ein öffentliches Vertrauen voraus in meine Person. Dieses Vertrauen hat Schaden genommen – und zwar ausgerechnet in dem Bereich, den ich beim Amtsantritt ausdrücklich zu meiner Chefinnen-Sache gemacht habe. Menschen, denen im Raum unserer evangelischen Kirche durch sexualisierte Gewalt schlimmes Unrecht angetan wurde, uneingeschränkte Aufklärung und Aufarbeitung zuzusichern, das war meine erklärte Absicht. Mit den starken Möglichkeiten meiner Führungsposition alles zu tun, um strukturell solches Unrecht zu verhindern, das war mein Ansinnen. Um diese Absicht und dieses Ansinnen geht es unserer Kirche. Dafür werde ich auch weiter einstehen.“
Ihr Rücktritt treffe viele Menschen, so Kurschus: „Viele haben mich gebeten, im Präses-Amt meiner westfälischen Landeskirche zu bleiben. Es geht nicht. Die Enttäuschten wissen: Ich kann meinen Dienst nicht wirksam tun, wenn meine Aufrichtigkeit öffentlich angezweifelt und immer wieder jeden Tag infrage gestellt wird.“ Zum Abschied verkündet die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche: „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen. Und so gehe ich sehr traurig, aber ich gehe getrost und aufrecht.“
Fragen und Antworten zum Fall Siegen/Kurschus
Schon im Vorfeld gab es unterschiedliche Zeichen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ging davon aus, dass der Rücktritt von Kurschus unausweichlich sein wird, weil ihr der Rückhalt innerhalb der EKD, dem Zusammenschluss der 20 „Gliedkirchen“ in Deutschland, fehle. Auch der in Kirchenfragen oft gut informierte Kölner Stadtanzeiger will dies erfahren haben. Andererseits ist in der Zeitung am Wochenende auch ein Meinungsbeitrag von Dr. Michael Bertrams, ehemaliger Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs und seit gut zehn Jahren Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Landeskirche in Westfalen, erschienen. Darin ist von großem Verständnis von Kurschus die Rede – und dass sich die Kirchenleitung mit Kurschus solidarisiere.
Deutliche Kritik kam schon am Donnerstag vom Betroffenenrat im Beteiligungsforum Sexuelle Gewalt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Betroffenen müsse geglaubt werden. Daher sei man besorgt, dass die Darstellung Kurschus in einer entscheidenden Frage von der anderer Personen abweiche. Man sehe Kurschus in der Pflicht, dies aufzuklären und wenn nötig „auch schmerzende Entscheidungen“ zu treffen. Dass mit Detlev Zander einer der Sprecher des Betroffenenrats öffentlich den Rücktritt von Kurschus fordert, sei aber eine „Einzelmeinung“, so Nancy Janz, ebenfalls Sprecherin des Betroffenenrats. Die Äußerung von Zander zeigt aber, wie groß der Druck auf Annette Kurschus ist.