Siegen. Vorwürfe aus Siegen wegen sexuellen Übergriffen durch einen Mitarbeiter setzen Annette Kurschus, „Chefin“ der Ev. Kirche, unter Druck.
Die oberste Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) steht unter Druck: Annette Kurschus (60), Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen und zugleich Ratsvorsitzende der ev. Kirche in ganz Deutschland, muss sich gegen Vorwürfe wehren, sie habe schon vor Jahren Informationen zu sexuellen Übergriffen in ihrem damaligen Tätigkeitsbereich in Siegen erhalten, aber nichts unternommen. Kurschus, die Pfarrerin in Siegen und von 2005 bis 2012 auch Superintendentin des Kirchenkreises Siegen war, nutzte die Synode der EKD in Ulm, um diesen Vorwurf zu dementieren.
- Kurschus: „Gottes Kraft setzt für mich viel Hoffnung frei“
- Kirchenkreis Siegen: Von Missbrauchsvorwürfen „wird wohl nichts übrig bleiben“
Bei dem Fall aus dem Siegerland geht es zunächst um Vorwürfe gegen einen inzwischen im Ruhestand befindlichen Mitarbeiter des Kirchenkreises. Mehrere Männer werfen dem Mitarbeiter vor, ihnen ungewollte sexuelle Avancen gemacht habe. Die Evangelische Landeskirche in Westfalen sagt, dass der heutige Kirchenkreis Siegen-Wittenstein nach Bekanntwerden der Vorwürfe Anfang des Jahres sofort die Ermittlungsbehörden eingeschaltet habe. Die haben ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen, die Staatsanwaltschaft Siegen hat gegenüber unserer Redaktion allerdings erklärt, dass wahrscheinlich keine strafrechtlich relevanten Vorwürfe übrig bleiben würden. Alle bislang bekannten Betroffenen seien zu der Zeit mindestens 18 Jahre alt gewesen, zudem gebe es keine Hinweise auf sexuelle Gewalt. Womöglich, so der Behördensprecher, würden sich aber noch weitere Betroffene melden. Die Landeskirche erklärte zudem, dass man die Betroffenen ernst nehme und ihnen Hilfe anbiete.
Bei Treffen im Garten detailliert informiert?
Doch abseits der strafrechtlichen Beurteilung gerät nun Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende, durch einen Bericht der Siegener Zeitung in Bedrängnis. Demnach soll es bereits Ende der 90er-Jahre ein Gespräch mit mehreren Teilnehmern im Garten von Kurschus in Siegen gegeben haben. Dabei gewesen sein soll auch ein Betroffener der möglichen sexuellen Übergriffe. Die Siegener Zeitung zitiert einen Teilnehmer, dass Kurschus schon damals in Siegen über die „sexuellen Verfehlungen des Kirchenmitarbeiters explizit und detailliert“ informiert worden sei. Laut Siegener Zeitung haben zwei Teilnehmer der damaligen Runde zu diesen Aussagen inzwischen auch eine eidesstattliche Versicherung abgegeben.
Kurschus hingegen sagte auch vor der Synode in Ulm, dass sie erst seit Anfang des Jahres durch die Anzeige von dem Fall wisse. „Andeutungen und Spekulationen“ in dem Zeitungsbericht weise sie zurück. „Vorher hatte ich keine Kenntnis von Taten sexualisierter Gewalt durch diese Person“, betonte sie. In Gesprächen vor vielen Jahren sei zwar die sexuelle Orientierung des inzwischen beschuldigten Kirchenmitarbeiters thematisiert worden, „aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt“. Kurschus räumte ein, dass sie mit dem nun im Ruhestand befindlichen Kirchenmitarbeiter ein freundliches Verhältnis gepflegt habe. Nachdem sie nun von den Vorwürfen wisse, sagt sie: „Ich bin wütend, ich bin sehr enttäuscht“. Zu dem von den Betroffenen thematisierten Gespräch bei ihr zu Hause sagte sie vor der Synode: „Da ist von einem Gespräch im Garten die Rede. Ich prüfe mich, ich prüfe mich intensiv: Habe ich was überhört, habe ich was übersehen, gibt es da ein Missverständnis?“
Innerhalb der Kirche wächst die Kritik
Doch auch kirchenintern scheint Kurschus‘ Argumentation zumindest nicht überall zu überzeugen. In EKD-Kreisen wird derweil von einer katastrophalen Krisenkommunikation gesprochen. Kurschus verfolge eine „Salamitaktik“, rücke Informationen nur scheibchenweise heraus, heißt es. Jetzt stehe eine eidesstattliche Erklärung gegen das Wort der EKD-Ratspräsidentin. Offenbar bröckelt Annette Kurschus’ Rückhalt in den Gremien der evangelischen Kirche. „Führende Köpfe in der EKD sind schon seit Tagen entsetzt über Kurschus’ Kommunikationsstrategie“, schreibt die FAZ. Es habe Ratschläge gegeben, die Karten rasch auf den Tisch zu legen und sich über die Vorsicht der im Hintergrund tätigen Juristen hinwegzusetzen. Kurschus habe sie in den Wind geschlagen.
Zudem habe Kurschus die EKD-Gremien monatelang in Unkenntnis über staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gelassen. FAZ-Informationen zufolge unterrichtete sie in den beiden Gremien EKD-Rat und EKD-Kirchenkonferenz erst vergangene Woche in Ulm über den Fall aus Siegen. Dabei soll sie beteuert haben, dass sie sich nichts vorzuwerfen habe und auch nichts weiter zu befürchten sei. Die Leitung der westfälischen Landeskirche, der Kurschus als Präses vorsteht, sei dagegen über den Fall schon seit Monaten im Bild.
Nun fällt das Wort Rücktritt. Kurschus, die die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt zur „Chefinnensache“ gemacht hat, könnte ausgerechnet über diesen Themenkomplex stolpern. Gegen organisierte Verantwortungslosigkeit hat sie sich immer selbst vehement ausgesprochen, jetzt wird ihr vorgeworfen, sich genau dahinter zu verschanzen. Zudem gelte ihr Verhältnis „zu den anderen beiden mächtigen Frauen in der EKD, ihrer Stellvertreterin Bischöfin Kirsten Fehrs sowie zu Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich, (...) ohnehin als gespannt“, schreibt die FAZ.
Eine Anfrage der WESTFALENPOST ließ Annette Kurschus am Donnerstag unbeantwortet.
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Siegener Zeitung habe berichtet, dass einer der Betroffenen eine eidesstattliche Versicherung zum Ablauf des Gesprächs mit mehreren Teilnehmern im Garten von Annette Kurschus abgegeben habe. Richtig ist aber, dass die Siegener Zeitung berichtet, dass auch ein Betroffener an dem Garten-Gespräch teilgenommen habe, aber zwei weitere Teilnehmer diese Versicherung an Eides statt abgegeben haben. Wir haben dies entsprechend korrigiert.