Hagen. Wusste Annette Kurschus schon früher von sexuellen Übergriffen durch einen Kirchenmitarbeiter? Fragen und Antworten im komplexen Fall.

Was wird sie sagen, die oberste Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)? Mit Spannung richtet sich der Blick in Richtung Bielefeld: Dort, im Landeskirchenamt, will Annette Kurschus am Montag um 11 Uhr eine persönliche Erklärung abgeben in dem Fall, der seit Tagen für Schlagzeilen sorgt: Im früheren Kirchenkreis Siegen soll ein Mitarbeiter jungen Männern gegenüber sexuell übergriffig gewesen sein. Und die Frage ist, ob Kurschus, die heute Ratsvorsitzende der EKD und Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen ist, schon in ihrer Zeit in Siegen (1989 bis 2013), wo sie als Pfarrerin und später als Superintendentin (also Leiterin des damaligen Kirchenkreises Siegen) tätig war, davon wusste. Der Überblick in diesem vielschichtigen Fall.

Welche Vorwürfe gibt es?

Seit Anfang des Jahres sind die Evangelische Kirche und auch die Staatsanwaltschaft in Siegen informiert. Es soll zunächst eine anonyme Anzeige gegeben haben, aber auch einen so genannten Verdachtsfall, der den heutigen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein erreichte, der dann ebenfalls die Ermittlungsbehörden einschaltete. Im Kern geht es bei den Vorwürfen darum, dass ein inzwischen verrenteter Kirchenmitarbeiter eine Reihe junger Männer – von mindestes acht Betroffenen ist die Rede - zu sexuellen Handlungen aufgefordert haben soll, die diese aber nicht gewollt hatte. Die Siegener Zeitung hatte den Fall durch ihre Recherchen öffentlich gemacht: Sie zitiert unter anderem einen Betroffenen, der sagt, dass er die homosexuellen Handlungen nicht gewollt habe, sie zunächst auch gegenüber dem bedeutend älteren Kirchenmitarbeiter abgelehnt habe. Nach einer Zeit habe er sich aber doch darauf eingelassen, weil er nicht ertragen habe, dass die von ihm als „Idol, eine Vaterfigur“ anerkannte Person sich kühl und abweisend verhalten habe.

Was sagen die Ermittlungsbehörden?

Noch laufen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Siegen. Ein Sprecher hatte gegenüber unserer Redaktion aber deutlich gemacht, dass – abseits aller moralischen Bewertungen - eine strafrechtliche Verfolgung nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen eher unwahrscheinlich sei. Die entscheidenden Punkte: Es gab nach den bisherigen Ermittlungen keine Anwendung von Gewalt oder deren Androhung, um sexuelle Handlungen durchzusetzen. Und bislang scheint es so, dass alle mutmaßlichen Betroffenen zur Zeit der Vorfälle noch jung, aber wohl schon volljährig waren. Von sexueller Gewalt im juristischen Sinne könne man nicht sprechen. Allerdings sind noch nicht alle Zeugen gehört, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass es auch seinerzeit minderjährige Betroffene gab. Dann könnte es sein, dass der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener zum Tragen komme, aufgrund der – so die Staatsanwaltschaft „etwas herausragenden Stellung“ des Kirchenkreismitarbeiters. Ob davon dann wiederum auch Fälle verjährt sein könnten, muss sich zeigen.

Warum steht Annette Kurschus in dem Fall so unter Druck?

Hier geht es vor allen Dingen um die Frage, wann sie von den Vorwürfen gegen den Kirchenmitarbeiter erfahren hat. Die Siegener Zeitung berichtet, dass es Ende der 90er-Jahre im damaligen Garten von Annette Kurschus zu einem Gespräch gekommen sei – unter den Teilnehmern sei auch ein Betroffener gewesen und eben Kurschus. Ein Teilnehmer dieses Treffens hat gegenüber der Siegener Zeitung erklärt, man habe „explizit und detailliert“ über die sexuellen Verfehlungen des Kirchenmitarbeiters gesprochen. Kurschus sei damals „betroffen“ gewesen. Dieser und noch ein weiterer Teilnehmer haben diese Aussage laut Siegener Zeitung auch in einer Eidesstattlichen Versicherung bekräftigt.

Was sagt Annette Kurschus dazu?

Seit der Fall öffentlich ist, hat Annette Kurschus stringent an der Aussage festgehalten, dass sie in ihrer gesamten beruflichen Zeit in Siegen – ob als Pfarrerin oder Superintendentin - keine Hinweise auf Taten sexualisierter Gewalt durch den Kirchenmitarbeiter erhalten habe. Sie sei auch nicht direkte Dienstvorgesetzte des heute beschuldigten Mannes gewesen. Am vergangenen Dienstag (14. November) berichtete die Siegener Zeitung dann online, dass es dieses Treffen im Garten bei Kurschus gegeben habe, in der auch sie „explizit und detailliert“ über die Vorwürfe gegen den Kirchenmitarbeiter informiert worden sei. Am Abend ergriff die Ratsvorsitzende dann bei der in Ulm tagenden Synode der Evangelischen Kirche das Wort. In einem etwa fünfminütigen Statement, das auch weiter bei Youtube zu sehen ist, bezieht sie Stellung. Anfang des Jahres habe sie durch eine anonyme Anzeige von den Vorwürfen erfahren: „Vorher hatte ich keine Kenntnis von Taten sexualisierten Gewalt durch diese Person.“

In Gesprächen vor vielen Jahren ist die sexuelle Orientierung des Beschuldigten, aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden.
Annette Kurschus

Zu dem Gartentreffen nimmt sie dann explizit Stellung – mit sehr kritischem Unterton gegenüber der Siegener Zeitung und deren Bericht vom Dienstagnachmittag: „In dem besagten Artikel werden Andeutungen und Spekulationen verbreitet, die ich mit Nachdruck zurückweise.“ Sie sagt weiter: „Da ist von einem Gespräch im Garten die Rede. Ich prüfe mich, ich prüfe mich intensiv, habe ich was übersehen, habe ich was überhört? Gab es da ein Missverständnis?“ Am Mittwoch dann berichtete die Siegener Zeitung über die Eidesstattlichen Versicherungen zweier Teilnehmer des Garten-Treffens. Kurschus nahm dazu dann keine Stellung mehr, sondern ließ einen Sprecher der Landeskirche auch noch am Freitag gegenüber unserer Redaktion sagen, dass dem Statement bei der Synode nichts mehr hinzuzufügen sei. Er bestätigte aber eine Äußerung von Annette Kurschus, die am Rande der Synode gesagt hatte: „In Gesprächen vor vielen Jahren ist die sexuelle Orientierung des Beschuldigten, aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden.“

Wie gut kennt Annette Kurschus den Beschuldigten?

Hier gab es Irritationen. In der ersten Stellungnahme zu dem „Fall Siegen“ heißt es von der Ev. Landeskirche Westfalen: „Annette Kurschus ist die beschuldigte Person aus der Zeit ihrer früheren Tätigkeit im Kirchenkreis bekannt.“ Vor Journalisten sagte sie am vergangenen Sonntag (12. November) laut epd: „Die Person kenne ich in der Tat aus meiner früheren Zeit in Siegen. Das ist klar: In Siegen kennt jeder jeden, und erst recht, wenn man so lange da war.“ Am Dienstag dann – die Siegener Zeitung hatte inzwischen über enge private Kontakte zwischen Kurschus und der Familie des verheirateten Familienvaters berichtete- sagte Kurschus bei ihrer Erklärung vor der Synode: „Die beschuldigte Person kenne ich gut, ich kenne sie sogar sehr gut. Jedenfalls dachte ich das. Was dieser Person vorgeworfen wird, was Betroffenen durch diese Person angetan wurde, ist entsetzlich.“ Die Schilderungen schockierten sie. Kurschus: „Sie ahnen: Da meinst Du eine Person gut zu kennen, dann erfährst Du von einem völlig anderen, von einem total abtrünnigen Gesicht. Ich bin wütend, ich bin sehr enttäuscht“.

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Warum reagiert die Betroffenenvertretung so kritisch?

Die bislang kritischsten Töne aus der Evangelischen Kirche an dem Verhalten von Annette Kurschus kommen von der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum Sexuelle Gewalt der EKD. Am Donnerstag (15. November), machte das Betroffenenforum eine Erklärung öffentlich. Darin heißt es unter anderem: „Grundsätzlich gilt, dass den Aussagen von Betroffenen sexualisierter Gewalt Glauben zu schenken ist und diese nicht in irgendeiner Art und Weise in Zweifel gezogen werden.“ Und weiter unten: „Wir sind in höchstem Maße besorgt, dass die Darstellung der Ratsvorsitzenden der EKD in einer entscheidenden Frage von der anderer Personen abweicht. Die aktuelle Berichterstattung stellt die Glaubwürdigkeit von Frau Kurschus in Frage.“ Dies dürfe nicht zu einer Beschädigung aller Anstrengungen, Projekte und Maßnahmen im Beteiligungsforum der EKD führen. „Es braucht eine klare, lückenlose und unabhängige Aufklärung in diesem Fall.“ Im Gespräch mit unserer Redaktion macht Betroffenen-Sprecherin Nancy Janz zudem in Richtung Annette Kurschus deutlich: „Wir erwarten als Betroffenenvertreterinnen und - vertreter, dass sie alles daran gibt und Verantwortung übernimmt und wenn nötig auch schmerzende Entscheidungen trifft. Die Verantwortung liegt da ganz klar auf der Seite von Frau Kurschus.“

Mehr zum Thema

Was den „Fall Siegen“ derzeit innerhalb der Evangelischen Kirche noch brisanter macht: Es stehen entscheidende Schritte an, um das Thema sexuelle Gewalt noch offensiver anzugehen. Das war auch Thema bei der Synode in Ulm: Das Beteiligungsforum Sexuelle Gewalt, das paritätisch mit Betroffenen auf der einen sowie Kirchenvertretern auf der anderen Seite besetzt ist, forderte dabei einheitliche Standards in allen Landeskirchen und in den Einrichtungen der Diakonie im Umgang mit Betroffenen. Zudem soll am 13. Dezember eine lange diskutierte gemeinsame Erklärung mit der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, unterzeichnet werden – wie sie es mit der Katholischen Kirche bereits gibt. In der Erklärung sollen Standards für die Aufarbeitung von Missbrauch festgelegt werden. Und: Anfang kommenden Jahres soll die schon lange angekündigte Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche vorgelegt werden.

Wieviel Rückhalt hat Annette Kurschus noch in der Evangelischen Kirche?

Über die Frage wird derzeit viel spekuliert. Nach ihrer Erklärung vor der Synode zum „Fall Siegen“ bekam Annet Kurschus von den Teilnehmern Applaus. Aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde allerdings, dass eine weitere einflussreiche Kirchenfrau, die Präses der Synode Anna-Nicole Heinrich, auf Distanz zu Kurschus gegangen war. Über deren dort abgegebene Erklärung hatte sie am Mittwoch laut dpa vor Medienvertretern gesagt: „Ich selbst habe nicht geklatscht. Und ich muss sagen, ich war irritiert von dem Applaus.“ Deutliche Rückendeckung scheint Annette Kurschus dagegen aus der Spitze der Evangelischen Landeskirche Westfalen, der sie ebenfalls vorsteht, zu erhalten. Michael Bertrams, früherer Präsident des Oberverwaltungsgerichts Münster und des NRW-Verfassungsgerichtshofs sowie seit 2012 nebenamtlich Mitglied der Kirchenleitung der Westfälischen Landeskirche, hat sich am Samstag in einem Gastbeitrag für den Kölner Stadtanzeiger deutlich positioniert: Er halte die jetzt erhobenen Rücktrittsforderungen für unangemessen.

Auch wichtige Ereignisse im Leben eines Menschen geraten aus unterschiedlichen Gründen oftmals in Vergessenheit.
Dr. Michael Bertrams

Er versucht Verständnis zu erwecken, dass sich Kurschus nicht mehr an das Treffen im Garten erinnern könne. Kurschus‘ Erklärung vor der Synode sei angesichts einiger Ungereimtheiten kommunikativ unglücklich. Allerdings sei sie erst kurz zuvor von dem Bericht zu dem Garten-Treffen „buchstäblich überrumpelt worden“ – ebenso von den eidesstattlichen Versicherungen. Er wisse aus seiner langjährigen richterlichen Praxis: „Auch wichtige Ereignisse im Leben eines Menschen geraten aus unterschiedlichen Gründen oftmals in Vergessenheit.“ Er schließt mit dem Satz: „In der festen Überzeugung von ihrer Glaubwürdigkeit und Integrität ist es mir jedoch ein großes Bedürfnis, Annette Kurschus in voller Übereinstimmung mit sämtlichen Mitgliedern der Kirchenleitung öffentlich meine und unser aller Solidarität zu bekunden.“ Unklar bleibt dabei, ob er damit tatsächlich auch im Namen der gesamten Kirchenleitung spricht. Ein Sprecher des Landeskirchenamtes sagte unserer Redaktion: „Der Äußerung von Dr. Bertrams im Kölner Stadtanzeiger lag kein Beschluss der Kirchenleitung zugrunde.“

Wie geht es den Betroffenen?

Dazu ist abseits der Schilderungen in der Siegener Zeitung öffentlich wenig bekannt. Klar ist: Betroffene haben Kontakt zur Evangelischen Kirche und werden von ihr betreut. Ein Sprecher des Landeskirchenamtes sagt unserer Redaktion: „Gerade gab es ein Treffen einer Gruppe von Betroffenen mit dem Superintendenten und Mitgliedern des Interventionsteams.“ Ihnen sei es vor allem wichtig, gehört und wahrgenommen zu werden. „Und zu wissen, dass wir den Verdachtsfällen nachgehen und sie endlich über das Erlebte reden können.“ Wenn erforderlich könnten sie seelsorgerliche oder auch rechtliche und psychologische Unterstützung erhalten. Auch Annette Kurschus hatte in ihrem Statement vor der Synode in Ulm deutlich gemacht, dass die Kirche die Vorwürfe sehr ernst nehme und unabhängig vom Ausgang der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen aufarbeiten werde.

Was sagt der Beschuldigte?

Das ist bislang nicht bekannt. Sein Anwalt hat bislang allen Medien mitgeteilt, dass er sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern werde.