Bielefeld. Deutschlands oberste Protestantin: Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, über den Krieg und was sie „stammeln lässt“.

Corona, Krieg, Klima – Krisen kosten Kraft. Wo bleiben Hoffnung und Gottvertrauen? Gerade in der Weihnachtszeit. Darüber haben wir mit Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland gesprochen.

Das Jahr 2022 war hart, oder?

Ja, das stimmt. Dieses Jahr hat die Menschen in einer ungeahnten Weise verunsichert. Schon die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie wenig wir unser Leben selbst in der Hand haben. Ich zum Beispiel hätte nie gedacht, dass wir einem solchen Virus nicht schneller und wirksamer etwas entgegensetzen können. Es ist eine harte, vielleicht auch heilsame Lektion, nicht alles im Griff zu haben. Viele Menschen haben sich abgewöhnt, langfristig zu planen. Wir haben gelernt, wie schnell jeder Plan durchkreuzt werden kann.

Corona ist weiß Gott nicht die einzige Krise.

Allerdings. Zu der beschriebenen Verunsicherung ist in diesem Jahr eine deutliche verstärkte Angst getreten. Krieg und Gewalt sind in unmittelbare Nähe gerückt. Für viele von uns entwickelt das eine ganz neue, bis vor kurzem noch kaum vorstellbare Dimension. Alles in allem nehme ich eine tiefe Erschöpfung wahr. Wir sind jetzt schon im dritten Jahr im Krisenmodus. Das geht an die Substanz.

Und es gibt ja auch noch die Klimakatastrophe. Verlieren wir sie aus dem Blick?

Nein, sie lässt uns nicht los. Und das darf sie auch nicht. In vielen Gesprächen, die ich führe, steht sie als Thema weit oben. Durch den Krieg ist die Energieversorgung gefährdet, das ist ein riesiges Hindernis für die dringend nötige Energiewende. Die Klimakrise wird ihre schlimmsten Auswüchse erst in der Zukunft zeigen, aber gegenwärtig bildet sie das bedrohliche Hintergrundbrummen hinter allem. Wir merken: Wir sitzen alle im selben Boot und beschleunigen diese Krise sogar durch unser eigenes Handeln, durch unsere Art zu leben.

Krisen sind Zeiten, in denen sich Menschen zu Gott hinwenden. Sind die Kirchen jetzt voller?

Sie waren und sind immer gut besucht, wenn der Schock unmittelbar und die Verstörung groß ist, das haben wir am 24. Februar und in den Wochen danach erlebt bei den Friedensgebeten. Aber die Hinwendung zu Gott in der Krise geschieht nicht zwangsläufig. Ein Sprichwort sagt: Not lehrt Beten. Genauer sollte man sagen: Not aktiviert das Beten. Wer nie gelernt hat zu beten, wird auch in der Not nur selten darauf kommen. Not nährt allerdings auch die Zweifel. In Krisen kann der Glaube abhanden kommen, und das Beten kann einem vergehen. Krisen sind Entscheidungspunkte: Die einen lassen frustriert alle Hoffnung fahren. Andere setzen auf die gute Macht, die alles in Händen hält. An diese klammern sie sich umso fester.

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Verlieren die Kirchen ihre Bindekraft?

Die Selbstverständlichkeit, zu einer der beiden großen Kirchen zu gehören, war noch vor 20, 30 Jahren deutlich größer. Wer sich heute aus Überzeugung als katholisch oder protestantisch bezeichnet, muss das in der Regel erklären oder sich gar dafür rechtfertigen. Einer Kirche anzugehören ist keine gesellschaftliche Normalität mehr. Natürlich schwächt uns das. Ich sehe aber keinen Grund, in Alarmismus auszubrechen. Viel entscheidender als die Anzahl der Mitglieder ist für mich die Frage, wie wir das, was Jesus verkündet hat, stark und berührend in die Welt tragen: die Vision von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, von einer besseren Gerechtigkeit und vom Frieden, von Vergebung und Auferstehung aus dem Tod, all die Bilder und die Botschaft, von denen wir glauben, dass niemand auf sie verzichten kann. Die Menschen brauchen diese Kraft jetzt dringender denn je.

Weniger als 50 Prozent der Bürger in Deutschland sind Christen. Hat die Kirche zu viel Einfluss im Land?

Diesen Vorwurf habe ich nie verstanden. Wenn sich die Kirche heraushält, wird sie im Übrigen ebenfalls kritisiert. Die Kirche beteiligt sich an wichtigen gesellschaftlichen Diskursen und Prozessen. Dies wird weithin von den allermeisten als ein Gewinn empfunden. Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft zum Beispiel sind außerordentlich beliebt. Kaum jemand möchte darauf verzichten. Das gilt auch für entsprechende Schulen und Krankenhäuser. Diese Einrichtungen werden in besonderer Weise gesucht und geschätzt. Auch in vielen ethischen Fragen oder in Momenten, wo Seelsorge vonnöten ist, helfen wir, Orientierung zu finden. Das ist kein unrechtmäßiger Einfluss, sondern ein unverwechselbares und unverzichtbares Potenzial, das wir in die Gesellschaft einbringen.

Wie wollen Sie den Menschen in Ihren Predigten Hoffnung machen?

Wir feiern Weihnachten in einer Zeit, in der viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten weggebrochen sind: Wir haben gedacht, dass wir in einem friedlichen Europa leben. Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass so viele Menschen in die Armut abrutschen können, die bisher in bescheidenen, aber vermeintlich sicheren Verhältnissen lebten. Weihnachten ist das Fest, an dem Gott mit sich selber bricht. Gott, der die Welt ins Leben rief, bricht mit seiner göttlichen Erhabenheit und begibt sich in die menschlichen Niederungen eines verletzlichen kleinen Kindes. Das gibt mir Hoffnung. Jener, bei dem wir die größte Macht vermuten, setzt sich der größten Ohnmacht aus. Dann wird auch unsere eigene menschliche Ohnmacht nicht aussichtslos sein, weil Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist und durch sie gewaltige Veränderungen bewirken kann. Dieses göttliche Geheimnis lässt mich stammeln, wie Sie merken. Und es setzt für mich viel Hoffnung frei.

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Viele Ukrainer setzen ihre Hoffnungen in unsere Waffenlieferungen. Sie haben sich in dieser Frage deutlich positioniert.

Ich halte es für eine Pflicht christlicher Nächstenliebe, den in einem verbrecherischen Angriffskrieg überfallenen Ukrainern zu helfen, dass sie sich verteidigen und ihr Leben schützen können. „Du sollst nicht töten“ heißt schließlich auch: „Du darfst die Totschläger nicht gewähren lassen.“ Deshalb kann ich sagen: Ich halte die Unterstützung mit Waffen zur Verteidigung als ultima ratio für geboten. Trotzdem bin und bleibe ich davon überzeugt, dass keine Waffe den Frieden bringen wird. Jede Waffe, die Leben verteidigt, tötet auch Leben. Auf dieses Dilemma habe ich von Anfang an hingewiesen. Deshalb hat mich die Euphorie erschreckt, als der Bundestag über das 100-Milliarden-Paket abgestimmt hat. Es gab Standing Ovations, diese Begeisterung hat mich befremdet.

Hat der Pazifismus einen schweren Stand?

Die Friedensethik unserer evangelischen Kirche hat weiterhin uneingeschränkt Bestand. Sie hat in der Spur Jesu einen zutiefst pazifistischen Kern. Und das ist gut so. Wir haben allerdings auch hier eine Lektion dazugelernt: Unser Gewissen kommt auch dann nicht ungeschoren davon, wenn wir für absolute Gewaltlosigkeit sind. Wie also können wir unsere Überzeugung, dass keine Waffe Frieden schafft, verantwortlich stark machen angesichts eines kriegerischen Überfalls mit dem Ziel, ein ganzes Volk auszulöschen? Mit welcher Haltung gehen wir ins neue Jahr? Hat das Weihnachtsfest handfeste Konsequenzen für unser friedenstiftendes Denken und Handeln? Gott wird Mensch unter Menschen. Damit ist aus meiner Sicht auch im Blick auf den Krieg ein Auftrag verbunden: Wir dürfen nicht nachlassen bei der Suche nach friedlichen Wegen zur Verständigung. Dieser Krieg muss ein Ende nehmen. Danach zu streben, darf uns nicht in Ruhe lassen. Es ist an uns allen, die Saat für den Frieden zu legen.

>> INFO: Fernsehgottesdienst zu Neujahr

  • Annette Kurschus ist Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie wurde 1963 in Rotenburg an der Fulda geboren und wuchs zunächst in Obersuhl (Hessen) und dann in Siegen auf. Dort war ihr Vater Georg Kurschus (1930–2017) Pfarrer an der Nikolaikirche. In Siegen absolvierte Annette Kurschus auch ihr Vikariat.
  • Am 1. Januar 2023 wird Annette Kurschus im festlichen Neujahrsgottesdienst in der traditionsreichen Dresdner Frauenkirche die Predigt halten. Im Mittelpunkt steht dabei die biblische Jahreslosung für das kommende Jahr: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13).
  • Der Fernseh-Gottesdienst wird von 10.15 bis 11.15 Uhr live im Zweiten Deutschen Fernsehen übertragen.