Hagen/Siegen. Mögliche sexuelle Übergriffe in Siegen: Warum die Betroffenenvertretung auf Distanz zur Ratsvorsitzenden der Ev. Kirche geht.
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Annette Kurschus, will sich in einer persönlichen Erklärung am Montag um 11 Uhr in Bielefeld an die Öffentlichkeit wenden. Das teilten die EKD und die Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW) am Freitagabend mit. „Darin nimmt die Leitende Geistliche der EKvW Bezug auf den Verdachtsfall sexualisierter Gewalt im Evangelischen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein und insbesondere auf die Vorwürfe gegen ihre Person, die in diesem Zusammenhang medial verbreitet wurden“, heißt es.
Ob es sich dabei möglicherweise um eine Rücktrittserklärung handeln wird, ist unklar: Nach Informationen der Katholischen Nachrichten-Agenur (KNA) hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen, in der Kurschus als Präses leitende Geistliche ist, der Theologin ihr Vertrauen ausgesprochen.
Die EKD verwies in ihrer Presseerklärung hingegen darauf, dass der Rat der EKD in den vergangenen Tagen mehrfach „mit und ohne“ Kurschus getagt habe. Er bekenne sich zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie und setze dabei auf die Struktur des Beteiligungsforums.
Betroffenenvertretung übt Kritik an Kurschus
Mit deutlichen Worten und Forderungen wendet sich indes die Betroffenenvertretung sexualisierter Gewalt innerhalb der Evangelischen Kirche an Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die 60-jährige Theologin, die von 1989 bis 2012 als Vikarin, Pfarrerin und Superintendentin in Siegen tätig war, steht in der Kritik, weil nicht klar ist, ob sie schon früher von Vorwürfen gegen einen inzwischen pensionierten Kirchenmitarbeiter wusste. Der steht unter Verdacht, sich jungen Männern gegenüber im Kirchenumfeld sexuell übergriffig verhalten zu haben.
Nancy Janz, die Sprecherin der Betroffenenvertretung innerhalb des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD, machte gegenüber der WESTFALENPOST deutlich, dass es die klare Zusage von Kurschus gebe für eine lückenlose und unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung. „Deshalb erwarten wir als Betroffenenvertreterinnen und -vertreter, dass sie alles daran gibt und Verantwortung übernimmt - und wenn nötig auch schmerzende Entscheidungen trifft.“ Von einer Rücktrittsforderung will sie nicht sprechen, sie sagt aber deutlich: „Die Verantwortung liegt da ganz klar auf der Seite von Frau Kurschus.“ Detlev Zander, ebenfalls Sprecher der Betroffenen im Beteiligungsforum, sagte der dpa: „Frau Kurschus ist für die Betroffenen nicht mehr tragbar.“
Kirchenmitarbeiter soll sexuelle Avancen gemacht haben
Der Ex-Kirchenmitarbeiter soll vor Jahren deutlich jüngeren Männern sexuelle Avancen gemacht haben, die diese aber nicht gewollt hatten. Laut einem Bericht der Siegener Zeitung sei dies auch schon Ende der 90er-Jahrein Kirchenverantwortlichen in Siegen berichtet. Und zwar im Garten und Beisein von Annette Kurschus. Auch ein Betroffener sei damals dabei gewesen. Die Siegener Zeitung berichtet, dass zwei Teilnehmer des Gesprächs auch in einer Versicherung an Eides statt erklären, dass Kurschus damals über die „sexuellen Verfehlungen des Kirchenmitarbeiters explizit und detailliert“ informiert worden sei. Kurschus hingegen hatte in dieser Woche vor der Synode der Evangelischen Kirche gesagt, dass sie erst seit Anfang des Jahres durch eine Anzeige von den Vorfällen wisse. Zwar sei vor Jahren die sexuelle Orientierung des Mitarbeiters thematisiert worden, aber nicht der Tatbestand sexualisierter Gewalt.
Von sexueller Gewalt will auch die Staatsanwaltschaft Siegen nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen nicht sprechen. Das sei juristisch nicht zutreffend, da es bislang keine Hinweise auf Gewalt und Drohungen gegeben habe. Die Staatsanwaltschaft hatte gegenüber unserer Redaktion erklärt, dass die Vorfälle aus den 90er-Jahren (und in einem Fall auch aus den 80er-Jahren) wohl strafrechtlich nicht relevant seien. Geprüft werde allerdings noch, ob Vorfälle als sexueller Missbrauch Schutzbefohlener zu werten seien. Das sei allerdings nur der Fall, wenn Betroffene damals noch keine 18 Jahre alt gewesen seien. Bei den bislang befragten Männern ist das laut Staatsanwaltschaft nicht der Fall, es stünden aber noch Zeugenaussagen aus.
„Glaubwürdigkeit von Kurschus steht infrage“
Doch abseits der juristischen Bewertung bleibt für die Betroffenenvertretung eine sehr wichtige Frage, wie Kurschus aktuell mit den Vorwürfen umgeht: „Wir sind in höchstem Maße besorgt, dass die Darstellung der Ratsvorsitzenden der EKD in einer entscheidenden Frage von der anderer Personen abweicht“, heißt es in einer Erklärung der Betroffenenvertretung. „Die aktuelle Berichterstattung stellt die Glaubwürdigkeit von Frau Kurschus infrage.“ Zudem stehe für die Betroffenenvertretung außer Frage, wie die Kirche in solch einem Fall handeln müsse: „Grundsätzlich gilt, dass den Aussagen von Betroffenen sexualisierter Gewalt Glauben zu schenken ist und diese nicht in irgendeiner Art und Weise in Zweifel gezogen werden.“ Die Aufklärung und Ahndung von Taten sei dann Aufgabe des Rechtsstaates.
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Nancy Janz, die Sprecherin der Betroffenen, ergänzt: „Das Beteiligungsforum ist ein Gremium, das sich im höchsten Maß um bessere Strukturen und Verfahren für Betroffene einsetzt und das darf nicht in Frage gestellt werden.“ Daher erwarte man nun eine zügige, lückenlose und konsequente Aufklärung und Aufarbeitung des Falles in Siegen, „auch der Zusammenhänge mit Frau Kurschus - jenseits von Amt und Status“.
Kirchenrechtler: „Kurschus wird sich nicht im Amt halten können“
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sagte der dpa, der Fall zeige „paradigmatisch, dass neben der katholischen Kirche eben auch hohe evangelische Geistliche wie die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus in der Vergangenheit bis heute rechtlich wie menschlich nicht sachgerecht mit Anzeigen von sexualisierter Gewalt umgegangen sind“. Aus seiner Sicht stehe der Schutz der Institution „noch immer höher als die Sorge um die Opfer sexualisierter Gewalt“. Auch wenn noch Aussage gegen Aussage stehe, sei der Vertrauensverlust für Kurschus irreparabel. Er vermutete: „Sie wird sich wohl nicht im Amt der EKD-Ratsvorsitzenden halten können.“
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Siegener Zeitung habe berichtet, dass zwei Betroffenen eine eidesstattliche Versicherung zum Ablauf des Gesprächs mit mehreren Teilnehmern im Garten von Annette Kurschus abgegeben hätten. Richtig ist aber, dass die Siegener Zeitung berichtet, dass auch ein Betroffener an dem Garten-Gespräch teilgenommen habe, aber zwei weitere Teilnehmer diese Versicherung an Eides statt abgegeben haben. Wir haben dies entsprechend korrigiert.