Lennestadt. Fast 1000 Städte wollen mehr Spielraum bei der Anordnung von Tempo 30, darunter mehrere aus Südwestfalen. Darum ist die Sache ein Reizthema.
Für eine wie sie könnte es bald noch schwieriger werden. „Ich“, bekennt Ina Busse, „bin leider eine Temposünderin. Ich habe es immer eilig.“ Mit Geschwindigkeitsbegrenzungen kommt sie da natürlich schon mal in Konflikt, möglicherweise demnächst noch häufiger.
Fast 1000 Kommunen, darunter auch mehrere aus Südwestfalen, haben sich bundesweit der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ angeschlossen. Deren Ziel: mehr Spielraum für Städte und Gemeinden auch bei der Anordnung von Tempo 30. Vor kurzem hat der Bundestag den Weg durch eine von der Ampelkoalition vorgelegte Änderung des Straßenverkehrsgesetzes freigemacht. Neben dem Verkehrsfluss und der -sicherheit sollen nun auch Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden.
Kommt da also – vorbehaltlich der Zustimmung des Bundesrates – in der Region Tempo 30 als innerstädtische Regelgeschwindigkeit durch die Hintertür?
Ina Busse, Bürgerin aus Lennestadt-Meggen, die gerne zügig fährt, fände weniger Tempo einerseits „Unsinn“, weil man dann „noch länger braucht“. Andererseits lobt die 36-Jährige die Reform auch. Das Beispiel zeigt: Die Sache ist vielschichtig – und hat das Zeug zum Reizthema.
Mehr Gestaltungsspielraum für Kommunen
Im Rathaus in Altenhundem empfängt Lennestadts Bürgermeister Tobias Puspas zum Gespräch. Lennestadt ist – wie aus der Region beispielsweise auch Attendorn, Arnsberg, Hemer, Menden, Siegen, Schwelm oder Wetter – Teil der genannten Städte-Initiative. CDU-Politiker Puspas unterstützt das Ansinnen, ist aber darum bemüht klarzustellen, dass man nicht gedenke, pauschal Tempo 30 in Lennestadt zu verhängen.
„Sachlich, nicht ideologisch“ werde weiterhin von der Verkehrskommission (bestehend aus Kreispolizeibehörde Olpe, Landesbetrieb Straßen.NRW und Stadt) entschieden. Und zwar im Einzelfall. „Der fließende Verkehr ist als Argument nicht außen vor“, versichert Puspas. Ihm, so klingt es, geht es in erster Linie nicht um Tempo 30, sondern um etwas anderes.
„Ich“, betont Puspas, „bin ein Freund davon, mich für Initiativen einzusetzen, die uns mehr Möglichkeiten einräumen, zu gestalten, einen eigenen Weg zu gehen.“ Ähnlich klingen Antworten der anderen befragten Kommunen aus der Region, die sich mehr Handlungsspielraum wünschen. Klingt verständlich, auch für Bürgerin Ina Busse. „Die Stadt weiß besser als irgendeiner, der weiß Gott wo sitzt, was vor Ort notwendig ist“, sagt sie.
Doch so einfach ist es nicht.
Experte befürchtet: Tempo abhängig vom Wahlausgang
Professor Jürgen Gerlach ist Verkehrsplaner, er lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal und begrüßt grundsätzlich mehr Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen. Man rede nicht mehr über Wohngebiete, in denen oft bereits Tempo 30 gilt, sondern insbesondere über Bundes-, Land- und Kreisstraßen, die so genannten Klassifizierten Straßen. „Das sind Verbindungsstraßen, die abschnittsweise mit reduziertem Tempo geregelt werden sollen“, sagt Gerlach.
Der Verkehrsexperte befürchtet allerdings, dass es künftig von der politischen Mehrheit in einer Kommune abhänge, ob Tempo 30 angeordnet werde oder nicht. „Dann könnte Folgendes passieren: Ein Schild wird aufgestellt, nach der nächsten Kommunalwahl ist es weg, fünf Jahre später wieder da, dann wieder weg. Das sollte nicht sein“, sagt Gerlach. Ein Szenario, das Lennestadts Bürgermeister Tobias Puspas „rein theoretisch“ für möglich hält, weshalb er ganz praktisch mahnt: „Wir machen uns unglaubwürdig, wenn wir maßgebliche Entscheidungen vom Wahlergebnis abhängig machen.“
Mehr Handlungsspielraum kann aber eben auch bedeuten, dass es mehr Forderungen geben wird, diesen auch vor Ort zu nutzen.
Verdoppelung der Lebensqualität möglich
Bisher müssen für die Anordnung einer Tempo-30-Zone laut Straßenverkehrsordnung bestimmte Kriterien erfüllt sein. Dazu gehören Lärm, die Häufung von Unfällen oder die unmittelbare Nähe von sozialen Einrichtungen (etwa Schulen oder Kitas) an der betreffenden Straße. Nur, sagt Verkehrsplaner Gerlach: „Viele Schulwege queren nur die Straße. In dem Fall kann dort aber bisher nicht Tempo 30 eingeführt werden. Die Änderung des Straßenverkehrsgesetzes setzt genau hier an.“
Er nennt als Vorzüge von Tempo 30 statt 50: weniger Unfälle, weniger Lärm, weniger Schadstoffe. Wenn eine Straße zudem baulich angepasst werde (was Parkplätze kosten könnte), fielen die positiven Effekte besonders deutlich aus, außerdem sei die Akzeptanz in der Bevölkerung dann größer. Versuche hätten eine „Verdoppelung der Lebensqualität“ nachgewiesen. „In solchen aufgewerteten Straßen ist die Aufenthaltsqualität draußen größer, es gibt mehr Grün, die Verweildauer der Menschen verdoppelt sich, es gibt mehr Radfahrer und Fußgänger, Kinder spielen, die Gastronomie kann Flächen nutzen. In Straßen, in denen langsam gefahren wird, hält man sich lieber auf“, sagt Gerlach. Und wenn man die Geschwindigkeit nochmals reduziere, von 30 auf 20 km/h, dann „erreichen sie eine nochmalige Verdoppelung der Lebensqualität“.
Tempo 20, das wäre dann die nächste (Eskalations-?)Stufe; entsprechende Modellprojekte gibt es bereits im Land.
Bürgermeinungen: von „problematisch“ bis „gut“
Mehr Lebensqualität für die einen kann von anderen aber auch als mehr Lebensqual verstanden werden. Bei einer Umfrage unter zufällig ausgewählten Bürgern im belebten Zentrum von Lennestadt-Altenhundem – durch das die Bundesstraße 517 vorbei an Einzelhandel, Supermärkten und Bahnhof führt – ergeben sich recht unterschiedliche Meinungen zu dem Thema, bei dem auch Verkehrsverlagerungseffekte, Ampelschaltungen und ÖPNV-Taktungen eine Rolle spielen.
Ähnlich wie Ina Busse, die weitere Tempo-30-Regelungen auf Durchgangsstraßen ablehnt, äußert sich auch Matthias Knoche. Er ist in Lennestadt bekannt, war 18 Jahre lang Vorsitzender des Fußballvereins FC Lennestadt (bis 2019). Tempo 30 in Wohngebieten oder im Umfeld von Kitas und Schulen hält er für selbstverständlich. Er sei ja „kein Fanatiker“. Aber Tempo-30-Regelungen auf einer Bundesstraße, wie sie durch Altenhundem führt? Das fände er wahlweise „problematisch“ oder „übertrieben“. Der 56-Jährige verweist unter anderem darauf, dass ohnehin durch Ampeln, Zebrastreifen, Kreisverkehre, Lieferverkehr, ein- und ausparkende Autos sowie Passanten innerorts oftmals das mögliche Tempolimit von 50 km/h praktisch nicht erreicht werde.
Rosmarie (66) und Michael Friedhoff (61) sprechen sich hingegen eindeutig für mehr Tempo-30-Zonen aus. Vor allem für ältere Bürger und Kinder sei das „gut“. Außerdem „müsste es mehr Blitzer, mehr Kontrollen geben“, sagt sie.
Auch die meisten befragten Städte gehen von einem uneinheitlichen Meinungsbild in der Bevölkerung aus, verweisen teils aber auch auf eindeutige Bürgeranträge zur Durchsetzung von Tempo 30. Verkehrsplaner Gerlach bemerkt: „Es ist ein Spannungsfeld. Der Eindruck ist oft, dass es eher wenige ablehnende Stimmen sind, die aber sehr laut sind. Diejenigen, die Tempo 30 positiv sehen, halten sich zurück. Das ist ein Problem, weil die lauten Stimmen mehr beachtet werden.“