Hagen. Zehn Prozent? Immer seltener. Beim Trinkgeld sind Gäste zunehmend knausrig geworden. Ein Kellner erzählt, wie groß die Auswirkungen für ihn sind.
Klaus Müller arbeitet seit seinem 16. Lebensjahr in der Gastronomie. Auch mit Anfang 50 hat seine Begeisterung für den Kellner-Beruf nicht nachgelassen. „Ich würde nirgendwo anders arbeiten wollen. Ich liebe es, unter Menschen zu sein“, sagt er und verweist auf einen positiven Nebeneffekt seines Jobs: „Man ist immer in Bewegung und bleibt damit in Form.“ Doch was ihm zunehmend zu schaffen macht, ist ein bundesweiter Trend, der offenbar die Servicekräfte in Restaurants, Cafés und Kneipen im ganzen Land erfasst hat: Die Deutschen werden beim Trinkgeld immer knauseriger.
Schon lange sind die Bundesbürger im internationalen Vergleich alles andere als Trinkgeld-Weltmeister. Als gängig bezeichnet der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Dehoga „zwischen fünf und zehn Prozent der Rechnungssumme, selten bis zu 15 Prozent“.
20 Cent Trinkgeld bei einem Rechnungsbetrag von 49,80 Euro
Dass die Menschen in diesen Zeiten hoher Inflation und allgemeiner Preissteigerungen noch weniger tief in die Taschen greifen als ohnehin schon, kann auch Klaus Müller bestätigen. Er heißt eigentlich anders, will aber seinen richtigen Namen nicht in in der Zeitung lesen, weil er Nachteile fürchtet, wenn er sich kritisch über Arbeitgeber und auch Gäste äußert:: „Es kommt zunehmend vor, dass sich Gäste dafür rechtfertigen, ein geringes oder überhaupt gar kein Trinkgeld zu geben. Den Leuten steht einfach weniger zur Verfügung.“ Von den oft kursierenden 10 Prozent kann er derzeit nur träumen. Eher wird bei einem Rechnungsbetrag von 49,80 Euro der orangefarbene 50er-Schein mit den Worten „Stimmt so“ hingelegt.
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Der Westfale hat schon in der Systemgastronomie, in Restaurants und auch in Cafés gearbeitet: „Wenn die Tasse Kaffee auf einmal 4 Euro kostet, sind die Menschen weniger bereit, Trinkgeld zu geben, als wenn sie 2,50 Euro zahlen müssten.“ Dabei seien Servicekräfte in der Gastronomie auf das Dankeschön der Kunden zwingend angewiesen: „Wir leben von Trinkgeldern“, sagt Klaus Müller. „Was ich am Ende des Monats verdient habe, setzt sich jeweils zur Hälfte aus dem eher niedrigen Gehalt und dem Trinkgeld zusammen.“
Einige wenige schwarze Schafe in der Branche
Isabell Mura, stellvertretende Landesbezirksvorsitzende der Gastronomie-Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und Geschäftsführerin der NGG Südwestfalen mit Sitz in Hagen, bricht eine Lanze für die Servicekräfte in der Gastronomie. „Sie sind immer freundlich, geben ihr Bestes beim Erbringen einer Dienstleistung und zählen wahrlich nicht zu den Gutverdienern im Arbeitsleben. Sie haben ein Dankeschön vom Gast in Form von Trinkgeld verdient.“
Bis auf einige wenige schwarze Schafe, so berichtet sie weiter, bezahlten die Gastro-Betriebe ihre Servicemitarbeiter nicht mehr unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro in der Stunde. Laut dem gültigen Tarifvertrag im Gaststätten- und Hotelgewerbe erhielten ungelernte Kräfte für einfache Tätigkeiten 12,94 Euro pro Stunde und Arbeitnehmer mit dreijähriger Ausbildung 14,44 Euro. Doch: „Der Tariflohn wird leider indirekt über die Arbeitszeiterfassung aufgeweicht.“ Will heißen: Arbeitgeber führten bisweilen Diskussionen mit ihren Mitarbeitern, ob Mehrarbeit nötig war und machten daraus unbezahlte Überstunden.
Minimum: 10 Prozent der Rechnungssumme
Klaus Müller, der langjährige Kellner, hat seine eigenen Erfahrungen in der Systemgastronomie gemacht: „Wenn nicht viel los war, wurde man nach Hause geschickt. Das Geld fehlte mir am Ende des Monats.“
Für Gewerkschafterin Isabell Mura sollten Trinkgelder in Höhe von 10 Prozent der Rechnungssumme „das Minimum“ sein: „Angemessener wären mindestens 15 Prozent. Auch die Gastronomie-Kräfte leiden unter den enormen Preissteigerungen.“ Und doch: Auch bei der NGG ist angekommen, dass Restaurant- und Cafébesucher mit Blick auf Trinkgelder sparsamer geworden sind.
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Es geht auch um Wertschätzung für eine Dienstleistung. „Viele sehen es als Selbstverständlichkeit an, dass man den ganzen Tag im Betrieb für die Kunden rennt“, sagt Klaus Müller, der in den vergangenen Jahren eine gewisse Veränderung bei manchen Gästen festgestellt hat. „Es kommt häufiger vor, dass man an einen Tisch kommt, freundlich ,hallo’ sagt und keine Antwort bekommt.“
Man merke, so der Westfale, dass sich die Welt schneller drehe, dass die Menschen gestresster und ungeduldiger seien und dann ihren Frust am Servicepersonal ausließen. Ein Trinkgeld als Schmerzensgeld? Fehlanzeige. Stattdessen: „Warum geht das nicht schneller?“ An solchen Tagen falle es noch mehr auf, wenn Gäste mit geringem Einkommen „wenigstens 20 bis 50 Cent Trinkgeld als nette Geste“ gäben und Wohlhabende dagegen ihren Geiz offen zur Schau stellten. Und sich womöglich hinterher beklagen, dass Gastro-Betriebe wegen Personalmangels mehr Schließtage in der Woche haben.
Hilfe durch die Digitalisierung
Womöglich hilft die Digitalisierung auf dem Weg zu ordentlichen Trinkgeldern: Es gibt zunehmend Kartenlesegeräte mit voreingestellter Trinkgeld-Auswahl: „Dann findet sich eine Staffelung - 10, 15, 20 Prozent auf dem Display“, beschreibt NGG-Frau Mura. Kellner Klaus Müller selbst hat diese Neuerung beim bargeldlosen Bezahlen noch nicht erlebt. „Kollegen erzählten mir aber, dass diese Terminals einen gewissen Druck auf die Spendierfreudigkeit der Gäste ausübten.“
Kommt das im Kartenlesegerät registrierte Trinkgeld auch tatsächlich bei den Servicekräften (bzw. oft auch anteilig beim Küchen- und Thekenteam) an oder steckt sich das der Wirt in die eigenen Taschen? „Das passt schon“, sagt Müller, „das Trinkgeld wird offenbar separat erfasst.“ Gewerkschafterin Isabell Mura schränkt ein: „In den meisten Fällen – ob bar oder digital – kommt es 1:1 bei den Mitarbeitern an. Aber auch hier gibt es schwarze Schafe in der Geschäftsführung.“
Beim Personal nachfragen
Was rät sie? „Wenn ich bargeldlos bezahle, frage ich immer beim Personal nach, ob das vermerkte Trinkgeld auch tatsächlich bei ihm ankommt.“
Womöglich hilft in Zeiten zunehmender Knauserigkeit nur noch Trick 17. Vor zwei Jahren kamen Wissenschaftler der Hochschule Fresenius in einer experimentellen Studie zu einem interessanten Ergebnis: Reicht das Servicepersonal mit der Rechnung ein Gratisgetränk, erhöht sich das Trinkgeld deutlich. Die Forscher erklären dies mit dem soziologischen Prinzip der Reziprozität: Demnach steht jeder Empfänger einer Gefälligkeit unter dem Druck, diese zu erwidern.