Washington. Kleine Bezahlterminals bitten die Kunden auch in Branchen zur Kasse, wo bislang nicht „getipt” wurde. Sich zu entziehen, fällt schwer.
- „Tips“, also Trinkgelder, generieren oft den Hauptbestandteil des Einkommens in den USA
- Doch die erwarteten Trinkgelder steigen immer weiter – teilweise sind es gar 30 Prozent der Rechnung
- Wieso das so ist und wie viel man in den USA geben sollte
Es war kurz vor Corona in der berühmten Oyster-Bar in den Katakomben von „Grand Central Station” in New York. Austern, Clam Chowder, Shrimps, Zander und Lachs waren vorzüglich geraten. Der Grauburgunder ebenso. Als den aus Washington angereisten Besuchern die bei 250 Dollar angesiedelte Rechnung für Zwei präsentiert wurde, legte der bezahlende Gast, weil glücklich und beseelt, rund 40 Dollar drauf. „Mehr als 15 Prozent Trinkgeld, damit kann man doch nichts falsch machen”, erinnert sich Susan Miller an den Moment, als die Kellnerin ihren Gatten anblaffte: „Ist das dein Ernst, Herzchen? Hier sind 30 Prozent fällig.”
Was 2020 noch selten und menschengemacht war – die Anspruchshaltung auf satte Trinkgelder –, ist inzwischen ins Digitale abgewandert. Mehr und mehr diktieren auch in Branchen, wo bis dato nicht „getipt” wurde, Inkasso-Computer das Kundenverhalten. Gemeint sind diese kleinen, weißen Bezahlterminals, in die der Kunde seine Kreditkarte schiebt.
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Prompt dreht ein Angestellter den Mini-Laptop-großen Touchscreen zum Unterschreiben um, tauchen neben der Geizhals-Variante „No Tip” in der Regel drei Optionen fürs Trinkgeld-Entrichten auf: 15 Prozent, 18 Prozent? 20 Prozent? Der dahinter stehende Betrag ist, time is money, schon in Dollar und Cent ausgerechnet.
„Tipflation“ in nahezu allen Branchen
Einige Bezahldienste haben die automatisierten Zuschläge auch in Sektoren, die nicht Gastronomie, Taxi-Gewerbe oder Friseur-Salons abbilden, frech wie Oskar noch höher geschraubt. Hier stehen dann 22, 25 oder 30 Prozent plus zur Auswahl. 30 Prozent? Was mit dem ursprünglichen Sinn eines Trinkgelds, Wertschätzung gegenüber der erbrachten Leistung und dem in der Regel mies bezahlten Leistungsüberbringer auszudrücken, nicht mehr viel gemein hat.
Forscher wie der Trinkgeld-Experte Michael Lynn von der Cornell-Universität haben herausgefunden, dass viele Menschen in diesen Situationen einen unangenehmen sozialen Druck verspüren. Und meist ein höheres Trinkgeld geben, als sie insgeheim für angemessen halten. Weil der Kleinkrieg um das Zusatzkleingeld sich nicht mehr nur auf die Gastronomie beschränkt, sondern in den USA gefühlt fast jede Branche unverhohlen hohe „Tips” einfordert, macht der Begriff „tipflation” die Runde. Das Kunstwort speist sich aus „tip” und „inflation” und steht in sozialen Netzwerken für ein Phänomen, das viel Überdruss erzeugt.
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„Das ist mittlerweile wie ein zweiter Kaufpreis”, sagt Dave Regales. Der 67-Jährige Rentner aus Arlington im Bundesstaat Virginia hat für sich ermittelt, dass „die Lebenshaltungskosten im Monat locker um 200, 300 Dollar steigen, wenn ich den Aufforderungen zum Trinkgeldgeben jedes Mal umfassend nachkommen würde”.
USA: „Tips“ generieren oft den Hauptbestandteil des Einkommens
Statt „Stimmt so!” mit anschließendem Groll darüber, unangemessen viel gegeben zu haben, wünscht sich der ehemalige Regierungsbeamte eine „Bezahlschranke”. Jedenfalls bei Dienstleistungen, wo kein echter, durch Menschen erbrachter Service-Charakter zu erkennen ist. Dem Kunden allein die Option aufzudrängen, 30 Prozent Trinkgeld zu geben, hält Regales bei durchgängig gestiegenen Preisen „für reine Abzocke”.
Dabei hat das freiwillige Zubrot eine wichtige Stabilisierungsfunktion. Wer in den USA in Jobs arbeitet, in denen „tips” die Regel sind, kriegt deutlich weniger Mindestlohn. Das kann bis auf knapp zwei Dollar die Stunde heruntergehen. Trinkgeld-freie Berufe zahlen dagegen als Minimum gesetzlich verankerte 7,25 Dollar. In der Gastronomie führt das dazu, dass „tips” oft den Hauptbestandteil des Einkommens generieren.
Jackie (35), eine Serviererin im Restaurant „Little Beast” im Nordwesten Washingtons, kommt zurzeit an lauen Frühherbst-Abenden auf 200 bis 250 Dollar extra. Das sind bei einer Fünftage-Woche zwischen 1000 und 1.250 Dollar außer der Reihe, im Monat 4000 bis 5000 Dollar; steuerfrei. Hört sich nach viel an. Zieht man die zu 100 Prozent selbst zu tragenden Kosten für Krankenversicherung und private Rente ab, die in anderen Berufen vom Arbeitgeber anteilig getragen werden, sieht die Sache anders aus. „Ohne Trinkgeld kann ich mein Leben und das meiner achtjährigen Tochter nicht finanzieren”, sagt Jackie.
Sind Roboter-Kellner die Zukunft?
Befürworter behaupten, die digitalen Geldeinsammler seien nur die moderne Fortführung der klassischen Gurkengläser mit Schlitz im Deckel, die vielerorts auf den Tresen als „tip jar” stehen, um Geldstücke und Scheine aufzunehmen. Michael Lynn, der Forscher, sagt, das stimme nicht ganz. Weil jeder Umherstehende aber auch der bedienende Angestellte jederzeit mit einem Schlenker auf den Bildschirm sehen könne, ob ein Kunde beim Trinkgeldgeben großzügig oder knickerig war, entstehe eine Erwartungshaltung. Aus Scham, beim Knausern erwischt zu werden, drückten viele Kunden die Taste mit den höheren Prozentanteilen. Und zwar auch dann, wenn die vorher gelieferte Leistung nur medioker war.
Ein Teil des Problems, sagen Analysten, könnte sich in Zukunft von selbst erledigen, wenn sich die Technologie der Roboter-Kellner etablieren sollte. Firmen wie Bear Robotics in Kalifornien oder Richtech Robotics in Texas haben für Stückpreise um die 15.000 Dollar digitale Diener gebaut, die ohne Murren Gäste an ihren Tisch geleiten, die Bestellung aufnehmen und später die leer gegessenen Teller in die Küche schleppen.
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Die Innovation folgt dem Umstand, dass 60 Prozent der Gastronomiebetreiber in den USA nach Angaben der „National Restaurant Association” zu wenig menschliches Personal finden, um die nach Corona gestiegene Nachfrage zu bedienen. Roboter-Kellner dagegen brauchen keine Pausen. Sie können rund um die Uhr arbeiten. Und sie werden nicht schnippisch, wenn – siehe oben – das Trinkgeld geringer ausfällt als erwartet.
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