Werdohl. „Stells Landgasthof“ im Sauerland war der bundesweit erste und einzige alkoholfreie Landgasthof. Warum der Betrieb nun schließen musste.

Wenn Manfred Stell am Eingang des Landgasthofs in der Nähe von Werdohl steht, sehen seine Augen schlagartig traurig aus. „Das tut mir in der Seele weh“, sagt der 68 Jahre alte Gastronom, der am 14. Oktober 2022 Deutschlands ersten und einzigen alkoholfreien Landgasthof eröffnet hatte. Im Sauerland. „Im Land des Bieres“, wie er sagt.

Stell blickt auf den Schaukasten rechts von der Tür, in dem die Speisekarte hing. Hier prangt jetzt groß: „Vorübergehend geschlossen.“ Aus dem „Vorübergehend“, angebracht am 5. November 2022, ist mittlerweile ein „Für immer“ geworden. „Es sei denn, es findet sich noch kurzfristig ein Nachfolger.“

10 Kilometer von Lüdenscheid entfernt

Der 68-Jährige öffnet die massive Tür zu „Stells Landgasthof“, direkt neben einem Reiterhof, 4 Kilometer von Werdohl und 10 von Lüdenscheid entfernt. Die Vorgänger-Pächter hatten das Gasthaus „Culo del Mondo“ genannt. Übersetzt: „Am A… der Welt.“

Als Stell das Gelände pachtete, bemerkte er, dass das Hufeisen am Eingang verkehrt herum angebracht war. „Das Glück konnte so nicht reinfallen“, sagt er und lächelt gequält. Er hat das Eisen gedreht. Und doch ist er gescheitert.

Manfred Stell betritt den Gastraum mit 60 Sitzplätzen, daneben ein weiterer Saal mit dem gleichen Fassungsvermögen. Weiter hinten sollte noch der Wintergarten ausgebaut werden. Der Biergarten hätte Platz für mehr als 100 Gäste geboten. Es ist gemütlich, trotz der verwelkten Blumen in den Vasen. Die Ausstattung ist hochwertig, der Wirt hatte einen Kamin und ein Klavier für eine wohlige Atmosphäre gekauft. „Ich habe 30.000 Euro investiert. Und dann das“, so der gebürtige Wanne-Eickeler.

25 alkoholfreie Weine

Links vom Eingang steht die schmucke Theke, an der Stell drei Biere vom Fass zapfte, fünf Flaschenbier-Sorten kühlte, 25 verschiedene Weine und die unterschiedlichsten Spirituosen vom Whisky bis zum Gin ausschenkte – alles alkoholfrei. „Beim Pinot Grigio haben mir Gäste gesagt, dass sie keinen Unterschied zum alkoholhaltigen Wein schmecken.“

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Stell, ein Baum von Mann, wollte nach 40 Jahren in der Gastronomie und mit 68 „noch ein letztes Mal mit einem einzigartigen Konzept durchstarten“. Er steckte viel Herzblut in dieses Projekt, nahm sich ein Jahr Vorlaufzeit, um Lieferketten für alkoholfreie Getränke zu organisieren.

Der falsche Zeitpunkt

„Ich habe daran geglaubt, habe meinen Namen dafür hergegeben“, sagt der Wirt von „Stells Landgasthof“. Sein bitteres Fazit: „Es war zum falschen Zeitpunkt (Personalmangel, steigende Energiepreise) am falschen Ort (Sauerland).“

Stichwort Ort: Stell liebt die Bodenständigkeit der Menschen in seiner Wahl-Heimat. Aber, so musste er schmerzhaft feststellen: „Die Sauerländer brauchen noch Zeit für einen alkoholfreien Gasthof.“

Manfred Stell in der Küche seines Landgasthofs. Verzweifelt hat er nach Köchen Ausschau gehalten.
Manfred Stell in der Küche seines Landgasthofs. Verzweifelt hat er nach Köchen Ausschau gehalten. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Er ist im Internet beschimpft worden, nachdem zahlreiche Medien über sein in Deutschland einzigartiges Konzept berichtet hatten. „Es ging ins Persönliche. Was mir denn einfiele, den Menschen ihren Alkohol wegzunehmen. Zu einem guten Essen gehöre doch Bier.“ Dabei wollte er doch niemanden bevormunden.

Und es kam ihm zu Ohren, dass potenzielle Gäste aus der nahen Umgebung ihr Auto nicht am Restaurant abstellen wollten. „Sie sagten: ,Was sollen die Leute denken? Dass ich Alkoholiker bin?‘“

Andere Länder, andere Sitten

Manfred Stell ist selbst Alkoholiker. „Ich habe mir meine Bauchspeicheldrüse kaputtgesoffen“, sagt er. Seit 2015 ist er trocken und hat seitdem viel über das gesellschaftlich anerkannte, legale Suchtmittel Alkohol erfahren. „Andere Länder sind viel weiter in der Gastronomie.“

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Er nennt die Beispiele USA und Großbritannien, wo sich „Sober-Bars“­ ausbreiteten, die nur Alkoholfreies anböten. Und hier? Er fragte Brauereien, bei denen er alkoholfreie Fass- und Flaschenbiere bezog, nach Werbemitteln. Unterstützung? „Gleich Null“.

Dass die Nachfrage durchaus da war, hat Manfred Stell in den wenigen Öffnungswochen (donnerstags bis sonntags) schon erfahren. O.k., sagt er, es habe wie überall in der Gastronomie sehr gute und weniger gute Tage gegeben. Und die geparkten Autos hätten eher Kennzeichen aus dem Rhein- oder Bergischen Land als aus dem Sauerland gehabt.

Die 60 Plätze für Weihnachten seien aber bereits ausgebucht gewesen, die Silvester-Reservierungen liefen auch sehr gut, für Anfang 2023 hätten Anfragen für Hochzeitsfeiern vorgelegen. Alles ohne Alkohol. „Viel Zuspruch habe ich von Frauen erhalten“, sagt Stell, „die freuten sich, dass bei der Rückfahrt endlich mal der Ehemann am Steuer sitzt.“

Er musste selbst in der Küche einspringen

Hat er sich etwas vorzuwerfen? „Das einzige: Ich habe den Personalmangel in der Gastronomie unterschätzt. Man findet einfach keine Köche.“ Einer sprang wenige Tage vor der Eröffnung ab, von dem anderen musste sich Stell nach kurzer Zeit trennen.

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Also stellte sich der 68-Jährige am 5. November selbst in die Küche und musste feststellen, dass er in seinem Alter bei vollem Haus das Pensum nicht mehr schafft. Noch an dem Abend hing er den Hinweis „Vorübergehend geschlossen“ in den Schaukasten neben dem Eingang.

Köche: In der Gastronomie heiß begehrt

Er hat danach noch manches Vorstellungsgespräch geführt. Den Köchen sei bewusst, dass sie in der Branche heiß begehrt sind: „Da kamen unglaubliche Gehaltsvorstellungen auf den Tisch. Und ich sollte einen guten Teil cash auf die Hand zahlen.“

Dagegen sei es kein Problem gewesen, Servicekräfte zu finden. „Bewerberinnen sagten mir, dass sie gerne anfangen würden. Sie wären es leid, von alkoholisierten Gästen angemacht zu werden.“

Sein letzter Gastrobetrieb

Als Manfred Stell Ende November ein Schreiben seines Versorgers mit der Ankündigung erhielt, dass die Energiekosten doppelt so hoch wie bisher werden sollten, war für ihn „Feierabend“, aus „vorübergehend“ wurde für ihn „für immer“. Er weiß, dass es sein letzter Gastrobetrieb war: „Ich habe die Schnauze voll, bin jetzt Rentner.“

Sein „Super-Verpächter“ hat den Mietvertrag aufgelöst. Und doch hat der 68-jährige Wahl-Sauerländer noch eine Rest-Hoffnung, dass sich kurzfristig ein Nachfolger findet („ideal wäre ein junges Paar, dass sich selbstständig machen möchte“). Er würde ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen. Seine Webseite „stells.de“ hat er daher offengehalten.

„Wenn es mit dem Personalmangel so weiter geht, haben wir bald keine Landgasthöfe mehr. Das muss man doch verhindern“, sagt er. Womöglich mit einem ungewöhnlichen Konzept: „Lieferanten haben mir gesagt, dass ein Alkoholfrei-Boom gerade anfängt.“