Siegen. Die Politik hat die Corona-Pandemie für beendet erklärt. Doch wie sieht die Lage in den Arztpraxen aus? Ein Termin bei einem Hausarzt in Siegen.
Die Praxis liegt mitten in der Stadt, dennoch wirkt hier vieles wie beim Landarzt. Dr. Martin Mansfeld macht – in seiner Freizeit – gerne mit der Motorsäge Holz, er hat den Kettensägen-Führerschein. Aus dem Fenster seines Behandlungszimmers kann der Allgemeinmediziner auf sein gegenüberliegendes Wohnhaus blicken. Die Praxis sei 1953 von seinem Vater gegründet worden, er übernahm 1993. Mit einem Teil seiner Patienten, von denen einige bereits von Mansfeld senior behandelt wurden, duzt er sich. Martin Mansfeld trägt Jeans, Turnschuhe, Polohemd, ist unprätentiös, seine fünf Medizinischen Fachangestellten nennt er „die Mädels“. Es geht familiär zu. „Ich“, sagt Dr. Martin Mansfeld, „wäre ein Wiederholungstäter. Ich würde wieder Hausarzt, wenn ich noch mal auf die Welt käme. Es ist der schönste Beruf der Welt.“
Das sehen allerdings offenbar Nachwuchsärzte anders, insbesondere der ländliche Raum ist für viele unattraktiv, und die vergangenen Monate wie Jahre dürften wenig Werbung für den Job gemacht haben. Erst Corona, dann die ganzen Nachholeffekte – Grippe, Influenza, RS-Virus. Die Hausärzte sind oft der erste Wellenbrecher. Jetzt ist die Pandemie zwar vorbei, sagt die Politik, aber das heißt nicht, dass die Krankheit verschwunden, alles entspannt ist. Wie also sieht die Situation vor Ort aus, bei den Hausärzten?
„Durch die Pandemie hat sich die Belastung für die Hausarztpraxen verändert. Wir haben anders und mehr zu tun. Die Behandlung von Infekten hat deutlich zugenommen. Viele Menschen sind seit Corona distanzierter und verunsichert. Die Diagnostik – handelt es sich um Corona oder einen anderen Infekt – ist deutlich aufwendiger“, antwortet Mansfeld und erklärt: „Die Unsicherheit bei vielen Patienten bleibt bestehen, deshalb ist der Beratungsbedarf viel größer.“
Karneval habe für mehr Coronafälle gesorgt
11:48 Uhr, kurz vor Mittag, es herrscht Betriebsamkeit in der Praxis in der Häuslingstraße im Zentrum von Siegen. Die Türen der Behandlungszimmer fliegen auf und zu, rein, raus, ständig klingelt das Telefon, geht die Türklingel. „Der Nächste, bitte“, sagt Esther Völkel, die vor 37 Jahren bei Martin Mansfelds Vater ihre Ausbildung anfing. Mit Beginn der Karnevalszeit hätten die Coronafälle wieder zugenommen, berichtet Martin Mansfeld. Alles kein Drama (mehr), aber die immer noch recht neue Krankheit beschert ihnen weitere Arbeit – zusätzlich zu all dem, was ohnehin schon immer anfiel.
Eine Auswahl des Vormittags: Blutabnahme, Diabetiker-Betreuung, Ultraschall, dann humpelt ein Patient an Krücken in die Praxis. Fußball gespielt... Bevor der junge Mann an der Reihe ist, macht der Arzt aber erst mal für einen Patienten mit Verdacht auf einen Hirntumor einen MRT-Termin.
Sie sind die erste Anlaufstelle für alles. „Der Hausarzt behandelt die ganze Familie – vom Einjährigen bis zur 100 Jahre alten Oma – und alles – vom Schnupfen bis zur Krebserkrankung“, sagt Martin Mansfeld über seinen Beruf, den er wegen der vielfältigen Arbeit und des engen Kontakts zu den Menschen schätzt. „Wir sind manchmal eine Leitplanke für die Patienten, damit sie nicht von der Straße abkommen“, sagt der 58-Jährige.
Weniger Hausärzte, mehr Arbeit
Die Leitplanke führt mitunter bis in die Wohnungen der Patienten. Oder ins Pflegeheim. Mansfelds Praxis, die er mit seinem Mitstreiter Dr. Christoph Nies betreibt, bietet Hausbesuche an. Zuständig dafür ist neben den Ärzten die EVA. Die EVA heißt hier Daniela Schelle, sie ist die Entlastende Versorgungsassistentin, eine Medizinische Fachangestellte mit Zusatzausbildung. Und die EVA kommt gerade von einem Außentermin.
Daniela Schelle telefoniert noch kurz, dann erzählt sie von ihren Fahrten zu älteren Patienten, von denen viele alleine leben und nicht mehr in die Praxis kommen können. Ein Arzt aber könne nicht immer eine halbe Stunde oder mehr pro Hausbesuch aufwenden. Nicht nur ihre medizinische Aufgabe sei daher wichtig. „Meine soziale Funktion spielt eine große Rolle“, sagt sie, habe sie doch „für den zwischenmenschlichen Kontakt viel mehr Zeit“.
Zeit, ein gutes Stichwort. Denn die Zeit ist knapp. Heute mehr denn je. Sagt auch die EVA. In den Hochphasen der Pandemie seien sie „untergegangen“. Alles war neu, die Patienten verunsichert, Vorschriften zu Quarantäne, Tests und Impfstatus änderten sich ständig. All die Fragen mussten sie beantworten. Jetzt, da Corona nicht mehr das alles beherrschende Thema ist, „kehren wir langsam zum Alltag zurück“, sagt Daniela Schelle. Also ist jetzt weniger los? „Kann man so nicht sagen“, entgegnet sie, die seit 25 Jahren für Martin Mansfeld arbeitet. Viele ältere Patienten, die in den vergangenen Jahren nicht vorbeikamen, trauten sich mehr und mehr in die Praxis zurück. Außerdem gebe es immer weniger Hausärzte. „Wir“, sagt sie, „müssen viel mehr Patienten versorgen als früher.“
Gute Work-Life-Balance als Hausarzt?
Zwischen der Behandlung zweier Patienten legt Martin Mansfeld einen Zwischenstopp ein. Stressig sei es heute Vormittag, sagt er. Um 11:30 Uhr bittet er „die Mädels“, denen er für ihre Arbeit während der Pandemie ein Sonderlob ausspricht („Mein Team hat viel aushalten müssen“), um einen Kaffee. Besser aber, scherzt er, „wäre ein Cognac“.
Er hat Humor. Eine langjährige Patientin beschreibt ihn als „Frohnatur“. Aber bei den Themen Hausärztemangel und Praxisübergabe wird auch Mansfeld nachdenklich. Ihn betrifft das Problem persönlich, er hat keine Kinder. Er möchte noch zehn Jahre arbeiten. Dann müsse man schauen... Er hofft, dass die Praxis dort weitergeführt wird, wo sie seit 70 Jahren liegt. Mittendrin, nahe bei den Menschen. „Wenn wir alles in den Krankenhäusern zentralisieren, findet keine Verzahnung mehr zwischen den Hausärzten vor Ort und den Fachärzten statt. Darunter leidet die Versorgung der Patienten“, sagt Mansfeld.
Er, der sich als Bezirksvertreter im Hausärzteverband Westfalen-Lippe engagiert, lobt seinen Berufsverband wie auch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) für Bemühungen um Nachwuchsmediziner. Mansfeld rührt aber auch selber die Werbetrommel. Trotz der Arbeitsbelastung habe man als Hausarzt „eine gute Work-Life-Balance“, denn: „Man ist sein eigener Herr.“ Außerdem sei das unternehmerische Risiko recht gering, weil man bestehende Praxen übernehmen könne, sagt Mansfeld, der sich sicher ist: „Die Bereitschaft, als Hausarzt zu arbeiten, wächst unter jungen Menschen wieder.“
+++ Hintergrund: 13 Prozent weniger Hausarzt-Praxen in NRW +++
Die Zahl der Arztpraxen für Allgemeinmedizin ist in NRW von 2011 bis 2021 nach Berechnungen des statistischen Landesamtes um 13 Prozent gesunken (von 6 644 auf 5 804). Die Zahl der Facharztpraxen verringerte sich um vier Prozent (12.569 auf 12.106). Nach Angaben der Bundesärztekammer stieg die Zahl der ambulant tätigen Ärzte um 15,1 Prozent auf 34.500.